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Gespräch mit zwei ehemaligen Zwangsarbeiterinnen

Während des Zweiten Weltkriegs wurden sieben bis elf Millionen Menschen aus den besetzten Gebieten nach Deutschland verschleppt, um die deutsche Wirtschaft am Laufen zu halten. Vielfach bedeutete dies für die Betroffenen Ausbeutung, Misshandlung und Mangelernährung. Auch in Billstedt wurden zahlreiche Zwangsarbeiter eingesetzt, im Gewerbe, in der Landwirtschaft und in der Industrie. Die beste Dokumentation, die bisher dazu vorliegt, ist die Broschüre „Billstedts vergessene Geschichte“, die in den 1980er Jahren von der Geschichtsgruppe des Stadtteilprojekts Sonnenland erstellt wurde.

Im Jahr 2000 wurde vom Bundestag die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ ins Leben gerufen, aus deren Mitteln den ehemaligen Zwangsarbeitern für das erlittene Unrecht eine Entschädigung gezahlt wird. Zeitgleich richteten Senat und Bürgerschaft in Hamburg ein Besuchsprogramm für ehemalige Zwangsarbeiter ein, dass es diesen ermöglichen soll, noch einmal in die Hansestadt zurückzukehren, sofern ihnen selbst hierfür die Mittel fehlen. Seitdem kommen jedes Jahr einige dutzend ehemalige Zwangsarbeiter nach Hamburg, wo sie vom Freudeskreis der KZ-Gedenkstätte Neuengamme betreut werden.

Im September 2010 befanden sich unter den Besuchern auch zwei Frauen aus Polen, die damals als junge Mädchen nach Billstedt verschleppt worden sind, um hier in der Jutespinnerei und -weberei zu arbeiten. Es handelt sich dabei um Alicija Matejak und Stefanie Wielgos, die beide 1924 geboren wurden. Wir hatten die Möglichkeit, die beiden Damen kennen zu lernen und mit ihnen ein Interview zu führen. Im Folgenden geben wir es wieder. Bei den Antworten von Frau Wielgos und Frau Matejak handelt es sich um die in die Ich-Form überführten sinngemäßen Ausführungen der beiden Übersetzer.

Unser Dank gilt an dieser Stelle neben Frau Wielgos und Frau Matejak sowie den beiden Übersetzern auch Frau Hertz-Eichenrode von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, die den Kontakt hergestellt hat.

 

Frage: Frau Wielgos, Frau Matejak, wie haben Sie den deutschen Überfall auf Polen erlebt. Können Sie sich daran noch erinnern, wie das damals gewesen ist? Da waren Sie ja noch beide Mädchen.

Wielgos: Ich habe den ersten September 1939 in der Nähe von Kelzer erlebt. Kelzer selbst wurde bombadiert. Die umliegenden Dörfer waren hingegen nicht von Luftangriffen betroffen. Trotzdem habe ich die natürlich mitbekommen. Die Tatsache, dass man die Schulen dort gleich geschlossen hat, hat mich nicht direkt betroffen, weil ich gerade mit der Schule fertig war. Ich blieb in meinem Dorf noch bis 1942. Und 1942 erwischte mich - wie man es in Polen nennt - der Kontingentbefehl. Das bedeutet, dass jede Ortschaft eine bestimmte Anzahl an Zwangsarbeitern in einer Zentrale einliefern musste. Dabei ging es nicht um bestimmte Personen, sondern die Zahl musste stimmen. Das eine Dorf musste fünf, das nächste zehn, ein anderes zwei Zwangsarbeiter liefern. War man betroffen, sagt man: „Ich bin vom Kontigent getroffen.“

Matejak: Ich komme aus Lodz. Das ist eine relativ große Stadt im Zentrum von Polen. Als die Deutschen einmarschiert sind, herrschte zuerst eine große Unordnung, aber relativ schnell hat jeder Pole eine Kennkarte bekommen und jeder ab 16 Jahren musste sich beim Arbeitsamt melden, um Lebensmittelkarten zu bekommen. Das habe ich auch gemacht: Ich habe mich beim Arbeitsamt gemeldet und mir wurde gesagt, dass es relativ sicher sei, dass ich nicht in Lodz bleiben darf, sondern dass ich woanders arbeiten werde - in Deutschland also - weil ich noch so jung war. Ich wurde untersucht und für arbeitsfähig empfunden. Relativ schnell sind wir dann zum Bahnhof gefahren worden und ich landete in Berlin. Jeder, der da war, hat eine Nummer bekommen, wie im Gefängnis. Schließlich wurde ich direkt nach Hamburg eingeliefert, sodass ich schon am 2. August in Hamburg war und dort für eine Arbeit in der Fabrik ausgewählt wurde.

 

Frage: Wie viel Zeit hatten Sie, nachdem Sie die Information bekommen haben, dass Sie nach Deutschland zum Arbeiten fahren sollen? Hatten Sie Zeit persönliche Dinge mitzunehmen? Wie wurden Sie während des Transportes behandelt?

Wielgos: Ich hatte es vielleicht vermutet, aber trotzdem wusste ich nicht mit Sicherheit, welches Schicksal mich erwartet. Ich ging zuerst nach Częstochowa und da zum Arbeitsamt, wo ich mich melden musste. Erst als ich dort die Autos vor der Tür sah, wurde mir klar, dass die Reise etwas länger sein wird. Während des Transportes nach Berlin war die Reise eigentlich ganz ok. Man hat mich gut behandelt. Nach Ankunft hier in Hamburg war die Situation ähnlich. Ich erzähle Ihnen aber eine Geschichte zur Kehrseite der guten Behandlung: Als ich schon im Lager war, herrschte dort Hunger und ich bekam von einem ukrainischen Zwangsarbeiter ein bisschen Brot geschenkt. Das hat ein Lagerbewacher mitbekommen und ich wurde auf den Kopf geschlagen. Die Spuren von diesen Schäden trage sie leider bis heute: Ich habe Probleme mit dem Hören.

Matejak: Ich konnte noch alle Sachen, von denen ich glaubte, sie gebrauchen zu können, mitnehmen. Wir wurden zwar bewacht und zum Zug gebracht und dann auch fotografiert. Aber die Reise war eine ganz normale Reise mit dem Zug: von Lodz nach Berlin und dann nach Hamburg. Da ist nichts Besonderes passiert. In Hamburg wurden wir von einem Obermeister abgeholt. Da ich und meine Kollegen erst 16 waren, hat er uns sofort unter seine Fittiche genommen, sodass wir leichtere Arbeiten bekommen haben.

 

Frage: Bei Ihnen, Frau Wielgos, ist es tatsächlich so gewesen, dass Sie zum Arbeitsamt gegangen sind und dachten, Sie seien in zwei Stunden zurück und daraus wurden dann viele Jahre.

Wielgos: Ja, wirklich, ich hatte keine Ahnung, als ich zum Arbeitsamt ging, wohin die Reise gehen würde. Ich hatte keine Zeit für Vorbereitungen, keine Kleidungsstücke, keinen Abschied von der Familie.

 

Frage: Zum Kontingent: Mussten die Leute im Ort ihre Leute raussuchen, die sie wegschicken würden? Zum Beispiel der Bürgermeister?

Wielgos: Ja, es wurde dem sogenannten Soltes die Verantwortung übertragen, die im Rahmen des Kontingents erforderte Anzahl an Zwangsarbeitern aus den eigenen Leuten herauszusuchen und abzuliefern. Den Soltes könnte man als eine Art Vorsteher ansehen, nur dass er zu seiner Position mit weniger Demokratie kommt. Und das hat in den meisten Fällen die armen Leute aus dem Dorf getroffen.

 

Frage: Wo sind Sie angekommen? Gab es eine zentrale Stelle, wo Sie gelandet sind?

Wielgos: Wir wurden bereits in Berlin von Vertretern der Fabriken in Empfang genommen und für die Jute ausgewählt.

 

Frage: Die Fahrt war noch ganz normal, nicht so wie bei den KZ-Häftlingen, oder?

Matejak: Die Reise war eine ganz normale Zugfahrt. Nicht zu vergleichen mit der Reise der Häftlinge. Ich bin aber schon im Jahr 1940 angekommen ist, sodass ich 1942 schon eine „alte“ Arbeiterin war. Vielleicht war es 1942 bei der Ankunft schon anders.

 

Frage: War es bei Ihnen, Frau Wielgos, auch eine normale Reise?

Wielgos: Auch 1942 war es eine ganz normale Reise. Ich erinnere mich aber nicht mehr ganz genau, ob wir in Hamburg vom Hauptbahnhof nach Billstedt mit dem Zug oder mit dem Bus fuhren.

 

Frage: Wie war es hier in der Fabrik? Wie wurden Sie untergebracht? Mit wie vielen Personen waren Sie in einem Raum, wie hat die Verpflegung ausgesehen und wie waren die Arbeitsbedingungen?

Wielgos: Ich bin mit 16 Jahren in der Fabrik angekommen. Die jungen Mädchen wurden in einem Saal im ersten Stock der Fabrik untergebracht. Ich erinnere mich nicht, wie viele Personen in einem Raum geschlafen haben. Ich vermute aber, dass es acht waren. Die Verpflegung war zuerst nicht gut. Erstaunlicherweise hat sie sich dann ein bisschen verbessert.

 

Frage: Frau Wielgos, Sie hatten im Vorgespräch ja auch berichtet, dass sie Hunger gelitten haben.

Wielgos: Ja. Schlechte Zeiten bedeuteten Steckrüben. Morgens, mittags, abends gab es nur Steckrüben, nichts Anderes. Eines Tages haben wir beim Mittag die Teller einfach umgedreht und sind ohne etwas zu essen wieder an die Arbeit gegangen. Bis 18 Uhr haben wir gearbeitet und als wir zum Essen zurück kamen gab es plötzlich etwas Neues: Fleischkotletten mit Soße. Dies ereignete sich ungefähr zwei oder drei Monate nach der Ankunft. Seitdem gab es mindestens ein Mal in der Woche diese Fleischkotletten.

Matejak: Zuerst war die Versorgung sehr gut. Wir haben in einer Sporthalle geschlafen, die aufgetreilt wurde. Wir haben Decken, Kissen und Handtücher bekommen. Das hielt aber nur für ein Jahr an, dann wurde uns alles weggenommen. Die Decken waren dann aus dem gleichen Stoff wie die Säcke, die in der Jute hergestellt wurden, sodass es sehr rauh war und unangenehm für die Haut. Danach haben wir nicht mehr in der Halle geschlafen, sondern in einem ehemaligen Restaurant. Das lag ungefähr zwei Kilometer von der Fabrik entfernt. Dort haben relativ viele Menschen in einem Raum geschlafen. Jeden Morgen kam ein älterer Herr und rief „Aufstehen“. Das mochte natürlich keine der Frauen. Außerdem haben wir auf Grund der Bombardierungen sehr wenig geschlafen, weil wir in den Bunker gehen mussten, bzw. darauf warteten, dass die Flugzeuge kamen. Was das Essen betrifft: Das wurde immer schlechter. Wir haben immer weniger gekriegt. Vor allem viel Schwarzbrot. Wenn ich an einem Tag Hunger hatte und das Brot aufgegessen hatte, musste ich am nächsten Tag hungern. Aber dadurch, dass ich so jung war, hatte ich leichtere Arbeit und musste ab und zu älteren Damen helfen, die dort auch gearbeitet haben - sie waren Deutsche. Und ich habe ganz oft von den deutschen, älteren Frauen Essen bekommen. In der Tasche fand ich dann ein bisschen Brot oder belegte Brote. Und es gab auch eine Familie - die des Vorrichters - die mir sehr geholfen, die mich auch mit nach Hause eingeladen hat. Einmal konnte ich bei der Familie sogar Weihnachten verbringen.

 

Frage: Waren die Arbeitsbedingungen mit denen der Deutschen vergeichbar? Wurden die Zwangsarbeiter anders behandelt? Wie war die Behandlung überhaupt? War das Schlagen, das sie vorhin erwähnten, an der Tagesordnung?

Wielgos: Ich habe tatsächlich mit Frauen aus Deutschland zusammen gearbeitet. Der wichtigste Unterschied für mich war, dass ich zwölf Stunden gearbeitet habe und die deutschen Frauen acht. Sonst waren die Behandlungen und Bedingungen für alle Frauen gleich. Ich habe eigentlich keine schlechten Erinnerungen, wenn es um die Arbeitsbedingungen geht. Ich habe an einer Spinnmaschine gearbeitet, habe diese allein bedient. Es gab sogar einen gewissen Arbeitsschutz: Man durfte nicht zu viel Gewicht tragen. Ich habe die Arbeitsbedingungen zumindest damals als gerecht empfunden. Das Schlagen war eine einmalige Geschichte. In der Abteilung, in der ich gearbeitet habe, konnte ich solche Fälle nicht beobachten.

Matejak: Es herrschten tatsächlich die gleichen Bedingungen. Das, was die deutschen Mädchen machen mussten, habe ich auch gemacht. Ich hatte auch eine Frühstückspause von 15 Minuten und eine Mittagspause von einer halben Stunde. Das Einzige, was sich nicht verleugnen lässt, war, dass wir Hunger hatten. Sonst waren die Bedingungen gleich, was die Arbeitszeit und die auszuführenden Arbeiten betrifft. Einmal wollte ich nachts nicht in den Bunker, weil ich ausschlafen wollte. Dann ist der Meister gekommen und hat mich ins Gesicht geschlagen. Das war aber einmalig. Er hatte dann keine Zeit mehr, mich zu schlagen, weil der Krieg zu Ende ging.

 

Frage: Gab es getrennte Pausenräume? War die Verpflegung gleich?

Wielgos: Die Pausenräume waren getrennt. Die Verpflegung kam aus derselben Küche, aber ich weiß nicht, ob die Deutschen auch dasselbe bekamen.

 

Frage: Gab es eine Kennzeichnung? Waren die Zwangsarbeiter gekennzeichnet?

Wielgos: Die Zwangsarbeiter waren gezwungen, ein „P“ zu tragen, sowohl in der Fabrik als auch draußen. Man war in der Lage, die Zwangsarbeiter zu erkennen. Außerdem hatten wir keine so große Bewegungsfreiheit, weil wir nicht mit der Straßenbahn und dem Zug fahren durften.

Matejak: Also, was das Essen betrifft, die Frühstückspause, da blieben die Frauen an den Maschinen, die wurden ausgeschaltet und da durfte man etwas essen, wenn man etwas zu essen hatte. In der Mittagspause haben alle zusammen gegessen, die Deutschen und Polen. Was das „P“ betrifft: Wir mussten es die ganze Zeit tragen, auch während der Arbeit. Weil ich so jung war, bin ich in die Stadt gegangen ohne dieses „P“ mitzunehmen bzw. habe ich es versteckt. Wir haben versucht nicht polnisch zu sprechen. Dann kam ein Gendarm und fragte, wo das „P“ sei. Wir mussten eine Strafe zahlen. Die Mahnung kam also in die Fabrik und das kostete beim ersten Mal fünf, beim zweiten Mal zehn und beim dritten Mal 15 Mark. Und dann wurde uns bei einer Versammlung gesagt, dass es beim vierten Mal keine finanzielle Strafe gab, sondern dann geht man in ein Konzentrationslager. Offiziell wurde gesagt, man darf sich das nur drei Mal erlauben. Ich wurde zwei Mal ohne „P“ in der Stadt erwischt.

 

Frage: Wenn es finanzielle Strafen gab: Bekamen Sie also auch Geld? Hatten Sie Kontakt zur Familie in der Heimat? 

Matejak: Ich habe tatsächlich Geld bekommen, aber es war eine lächerliche Summe, weil ich auch Krankenkassenbeiträge zahlen musste und die Verpflegung. Ich habe wöchentlich sechs Mark bekommen. Damit konnte ich mir Getränke kaufen und Schokolade oder auch eine Fahrkarte für die Straßenbahn, sodass ich das „P“ in die Tasche steckte und, wenn ich ein bisschen Zeit hatte, in die Stadt fuhr. Ich bekam von der Familie Briefe und auch Pakete: ab und zu ein Kleid oder Schuhe. Von der Fabrik bekam ich nur die Arbeitskleidung und Holzschuhe, die ich nicht tragen konnte, sodass ich darauf angewiesen war, was ich von der Familie bekam, entweder ein Kleid oder andere Schuhe. Einmal pro Jahr bekamen wir Bezugsscheine, sodass wir uns bessere oder modischere Schuhe kaufen konnten. Das waren keine Schuhe von Salamander, sondern von anderen Geschäften, die ein bisschen günstiger waren, aber trotzdem leichter waren und modischer aussahen. Aber Salamander hatte sehr gute Schuhe, die ich mir natürlich nie leisten konnte.

Wielgos: Ja, wir hatten ein Gehalt oder einen Lohn. Wie viel, weiß ich nicht. Was ich bestimmt weiß, ist, dass es kein Geld war, dass man dafür überhaupt nichts kaufen konnte. Nicht nur, weil alles auf Bezugsschein war, sondern weil es so wenig Geld war. Ich war nicht in der glücklichen Lage, dass ich Hilfe von der Familie hätte bekommen können. Aber ich hatte Kontakt mit der Familie, per Brief, und das war wichtig, weil die Familie in Polen wusste, dass Hamburg so oft bombardiert wurde. Durch diese Korrespondenz erhielt die Familie zumindest ein Signal, dass ich noch lebe. Ich hatte auch einmal einen Bezugschein für ein Kleid. Das habe ich nicht vergessen.

 

Frage: Sonntags hatten Sie frei. Das Fahren mit der Straßenbahn war aber verboten. Wie haben Sie Ihre freie Zeit genutzt? Waren Sie hier in Billstedt unterwegs? In Gruppen oder allein?

Wielgos: Es gab die Möglichkeit, das Lager zu verlassen. Ich war auch oft ohne „P“ unterwegs. Man hat es versteckt oder fand eine andere Möglichkeit, es nicht zu zeigen. Das war nicht einfach, weil die Kontrolle oft vorkam. Diese Freiheitsbeschränkung durch das Bahnverbot wurde verstärkt dadurch, dass wir auch nicht in ein Restaurant durften. Unabhängig davon, ob man es sich leisten konnte: Es war verboten.

Matejak: Natürlich waren wir eine Gruppe oder Clique. Zusammen sind wir immer los, um die Stadt zu besichtigen, weil uns die Stadt sehr gut gefallen hat. Auch in Billstedt gab es einen sehr schönen Friedhof, wo man spazieren konnte. Wir hatten Freundinnen oder Kolleginnen, die in einer Konservenfabrik arbeiteten. Entweder sind die zu uns gekommen oder wir sind zu diesen Kolleginnen zu der Konservenfabrik gefahren. Wir haben immer dieses „P“ versteckt und sind dann in die Stadt los. Am Ende war es nicht so gravierend mit dem „P“. Es wurde nicht so oft kontrolliert. Eigentlich sind wir immer in die Stadt gefahren, um die Stadt zu sehen. Am Anfang sind wir auch immer in die Kirche gegangen, da es einen Pfarrer gab, der die Predikt auf Polnisch hielt. Aber dann wurde es ihm verboten, und ab dann bin ich nicht mehr hingegangen. Ich dachte mir: „Was soll ich da hingehen, wenn ich nicht alles verstehe.“ Als ich jung war, konnte ich ziemlich gut Deutsch. Und mein Meister war immer sehr froh, wenn ich etwas auf Deutsch sagte. Er sagte: „Siehst du, das machst du doch gut. Du musst Deutsch lernen. Du bist noch so jung, das schaffst du.“ Er war sehr zufrieden, wenn ich etwas auf Deutsch gesagt habe.

 

Frage: Wir haben am Samstag eine Rundfahrt durch den Stadtteil gemacht. Sie hatten Schwierigkeiten, den Stadtteil wiederzuerkennen. Wie haben Sie damals den Stadtteil erlebt? War es eher dörflich oder schon von der Industrie geprägt?

Wielgos: Natürlich war ich sehr, sehr beeindruckt. Ich kam nicht aus einer großen Stadt in Polen. Für mich war Billstedt eine große Stadt. Für mich stand Billstedt damals noch. Was ich nach der Bombardierung erlebte, blieb mir mehr in Erinnerung als die ersten Blicke auf Billstedt. Der Vergleich zwischen Billstedt 1942 und 2010 ist für mich unmöglich. Das heutige Billstedt hat für mich nichts zu tun mit dem Billstedt, das ich 1942 erlebte. Eine Geschichte, die mit dem Luftangriff zu tun hat: Im Luftschutzbunker saßen die polnischen Zwangsarbeiter mit den Deutschen zusammen, im Gegensatz zu den russischen Arbeiterinnen, die in einem nicht richtigen Luftschutzbunker untergebracht waren. Zum Glück überlebten alle Polinnen diesen Angriff. Als die Fabrik schon brannte, saßen sie im Luftschutzbunker. Zuerst wurden die deutschen Mitarbeiterinnen gerettet. Als alle Deutschen gerettet waren, zog man am Ende auch uns aus dem Luftschutzbunker heraus. So blieben wir alle am Leben.

Matejak: Ich würde das Billstedt von vor 65 Jahren und das von heute nicht vergleichen. Heute würde ich es nicht erkennen. Als ich erfahren habe, wo ich während des Aufenthalts schlafen werde, hat meine Enkelin im Internet die Straße im Internet gefunden. Der Straßenname sagte mir etwas, aber das Bild ließ sich nicht vergleichen. Für mich war Billstedt nur eine Vorstadt. Ich wusste, dass Billstedt eine Vorstadt war und mit der Straßenbahnlinie 31 bin ich in die Stadt gefahren.

 

Frage: Wie wurden Sie von der Bevölkerung behandelt? Es gab ja viele Zuwanderer auch aus Osteuropa. Wie sind die Deutschen mit Ihnen umgegangen? Hat sie dich Rassenlehre der Nationalsozialisten bemerkbar gemacht?

Wielgos: Ich hatte eigentlich Angst vor dem Kontakt mit den Fremden hier auf der Straße und habe versucht, den Kontakt mit Leuten auf der Straße zu vermeiden. Obwohl es auch hier auf der Straße besonders ältere Leute gab, die Polnisch sprachen. Ich wurde auch angesprochen und habe mich ein paar Mal unterhalten. Im Ganzen hatte ich aber einfach Angst vor dem Kontakt mit Leuten auf der Straße.

Matejak: Ich war damals noch jung, weltoffen und neugierig, sodass ich Kontakte gesucht habe. Und in der Nähe der Fabrik gab es eine Arbeitersiedlung, die Spinnhäuser. Vielleicht können sich die älteren Einwohner von Billstedt noch daran erinnern. Das war eine typische Arbeitersiedlung an der Seite der Kirche. Dort habe ich viele Familien besucht. Die Arbeiter sprachen Polnisch. Mit einer Familie hatte ich sehr regen und freundschaftlichen Kontakt. Die Frau ist mir oft auf der Straße begegnet und hat gefragt: „Wie geht es dir?“ Und da kam eine andere Frau vorbei und sagte „Guten Tag“, da grüßte ich auf Polnisch, und auf ihre Anfrage hin, ob ich wirklich kein Deutsch könne, sagte ich: „Mein Gott, da kommt man auch mit Polnisch ganz gut klar. Ich habe es nicht so richtig gelernt.“ Also ich hatte schon Kontakte, vor allem in dieser Arbeitersiedlung.

 

Frage: Gab es außer Russen und Polen noch andere Nationalitäten? 

Wielgos: Wir hatten nur Kontakt zu den Russen und Ukrainern, sowohl Männer als auch Frauen. Mit anderen Nationalitäten hatten wir keinen Kontakt. Soweit ich weiß, gab es auch keine weiteren Nationalitäten, zumindest nicht in dieser Fabrik.

Matejak: Doch, es gab ein paar Tschechen und eine einzige Tschechin, eine Frau, die mit den Polinnen leben wollte. Sie hatte andere Bedingungen, sie bekam Lebensmittelkarten so wie die Deutschen und sie musste auch nicht zusammen mit den Polinnen schlafen, aber sie wollte das. Ich kann mich genau an diese Frau erinnern, sie hieß Bożena Jehowa und kam aus. Ich kann auch nicht sagen, wie viele Zwangsarbeiter in der Fabrik waren, weil sie so groß war, dass es drei Schichten gab, und ich kann nicht sagen, wie die anderen Schichten aussahen.

 

Frage: Wie haben Sie die großen Angriffe auf Billstedt erlebt? 

Wielgos: Ich hatte schon erzählt, dass die Fabrik vollkommen zerstört wurde. In meinen Erinnerungen komme ich bis zu dieser großen Bombardierung, durch die die Fabrik vollkommen zerstört wurde. Ich habe gesehen und gemerkt, dass Billstedt zerstört wurde. Ich sah Feuer und Leichen und das sind die Eindrücke, die geblieben sind.

Matejak: Ich habe nur einen einzigen Angriff erlebt und bei dem ist die Fabrik bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Da sind wir mit der anderen Bevölkerung ohne P-Zeichen von Billstedt zu Fuß nach Bergedorf. Dort waren wir in dieser Masse unter den Deutschen, die mit ihren Koffern und Habseligkeiten, den Sachen, die sie retten konnten, geflüchtet waren. Wir haben uns mit der Masse gemischt Ich habe sehr bewundert, dass man angesichts einer solchen Niederlage und Katastrophe so gut organisiert war, dass man Erste Hilfe und Essen bekam. Da bin ich mit einem Zug nach Berlin, wo auch alles sehr gut organisiert war. Von dort bin ich mit einem Zug nach Polen, nach Lodz gefahren, ohne ein Wort Polnisch zu sagen, also mehr oder weniger unbemerkt. In Lodz habe ich mich wieder im Arbeitsamt gemeldet und habe dort drei Monate gearbeitet. Ich wurde aber immer wieder gefragt: „Warum bist du hier? Warum bist du nicht in Hamburg?“ Und eines Tages bin ich mit meinem Frühstück wieder zur Arbeit gegangen, wurde weitergeschickt in ein Palais und wunderte mich, weil dort alle meine Kolleginnen saßen, mit denen ich geflohen war. Es hat sich herausgestellt, dass der Hamburger Chef nach diesen Leuten gesucht hat. Mir wurde gesagt, dass ich direkt nach Hamburg fahren würde. Ich hatten zum Glück einen Bleistift dabei, sodass ich eine kleine Notiz an die Familie schreiben konnte: „Ich fahre wieder nach Hamburg.“ Diese Notiz hat jemand gefunden und meiner Familie zugesteckt. Ich war acht Tage in einem Durchgangslager und wurde dann weiter zurück nach Hamburg gebracht.

 

Frage: Ab einem bestimmten Zeitpunkt hat sich abgezeichnet, dass Deutschland den Krieg verlieren wird. Haben Sie das mitbekommen? 

Wielgos: Das ist schwierig wiederzugeben. Die Gefühle und Erwartungen. Jedenfalls haben wir auf den Tag gewartet und haben ihn uns gewünscht. Er kam sogar schneller, als wir es uns erträumt hätten. Das Ende kam so schnell, dass wir es nicht erwartet hatten. Wir hatten zwar keine richtige Informationsquelle - nur Gerüchte von hier und da - aber die Polen hatten sich darüber unterhalten, dass die Fronten von Osten und Westen näher kamen. Bis heute habe ich den Eindruck, dass das Ende schneller kam, als wir es uns in dem Lager erträumt haben.

Matejak: Es gab natürlich Gerüchte, dass der Krieg vielleicht zu Ende geht. Zeitungen lasen wir keine und was darin stand war nicht die Wahrheit. Die Befreiung kam sehr plötzlich: Nach dem Frühstück sind auf einmal die Maschinen stehen geblieben und wir dachten, es sei etwas kaputt: „Was ist passiert?“ Dann kam der Meister und sagte, alle Werkzeuge seien abzugeben. Auf die Frage nach dem Warum sagte er: „Der Krieg ist zu Ende.“ Da haben wir natürlich getobt und waren sehr glücklich. Aber der Meister sagte, wir sollen zurück in die Baracken gehen und 48 Stunden nicht in die Stadt fahren, weil die alliierten Soldaten kommen. Das heißt, wir sollten da, wo wir waren, abwarten, was dann passiert.

 

Frage: Wie sind Sie zurückgekommen? Wie haben Sie Ihre Familien wiedergefunden? Haben sie den Krieg gesund überstanden? 

Wielgos: Nach Ende des Krieges ging ich in das Lager Wentorf. Das war das größte Lager in der Nähe von Hamburg. Für mich ist Wentorf auch ein besonderer Ort, weil ich dort geheiratet habe. Ich habe noch viele Bilder vom Heiratstag. Ich ging dann schon mit meinem Mann nach Hause. Die Familie hat überlebt. Mein Vater war noch in Deutschland, aber der Rest der Familie hat überlebt. Mein Vater kam ein bisschen später auch zurück nach Hause.

Matejak: Ich war in diesem Durchgangslager acht Tage lang. Ich hatte einmal während des Krieges meine Mutter besucht. Danach wurde sie dann leider derart geschlagen, dass sie 1943 verstorben ist. Ich habe Urlaub bekommen, um der Beerdigung beizuwohnen. Leider habe ich es nicht geschafft, weil ich in Hamburg in einen Eilzug eingestiegen bin, und dann wurde ich rausgeschmissen, weil die Polen keinen Eilzug benutzen durften. Ich musste auf einen Personenzug warten, und deshalb kam ich zu spät. Aber als ich 1945 mit meinem Verlobten nach Lodz zurückkam, hatte mein Vater schon eine zweite Ehefrau. Mein Verlobter und späterer Mann hat in Blankenese gearbeitet bei der Bahn. Daher habe ich Blankenese kennengelernt, und es war das schönste, was ich in Hamburg je gesehen habe. Ich weiß nicht, wie es heute aussieht. Meinen Verlobten habe ich dann geheiratet. Mein Bruder ist in Richtung Westen nach Breslau ausgewandert, hat mich angerufen und hat gesagt: „Hier gibt es Arbeit und neues Leben.“ Deshalb bin ich dann mit meinem Mann nach Breslau, und dort sind meine Kinder auf die Welt gekommen. Mein Mann hatte eine gute Stellung, ist aber leider 1966 mit 47 verstorben, sodass ich schon 43 Jahre Witwe bin. Ich bedanke mich auch, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben, um meinem Geplapper zuzuhören. Das mache ich sehr gerne, ich erzähle sehr gerne und ich mag Menschen und Kontakte mit Menschen. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht.