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Geschichtlicher Überblick

Wäre da nicht die besondere geographische Lage der beiden Dörfer „scibeke“ – Schiffbek – und „kercstenbeke“ – Kirchsteinbek – sie wären wohl, wie „odingethorpe“ – Öjendorf – historisch reichlich unauffällig geblieben. Wir wüßten vielleicht, wo die Bewohner im Mittelalter zur Kirche zu gehen hatten – nämlich seit 1286 im besagten kercstenbeke. Oder wo sie ihre Abgaben zu entrichten hatten – nämlich beim Nonnenkloster in Reinbek. Aber das wäre dann wohl für viele Jahrhunderte alles an Nachrichten aus der Vergangenheit der holsteinischen Dörfer gewesen.

Doch die Bäche, die Bille, die Lage an der Heerstraße am Geestrand und die direkte Nachbarschaft zur Hansestadt Hamburg verschaffte Schiffbek und Kirchsteinbek immer wieder eine Rolle in den Zeitläuften. Schon im 8. Jahrhundert, so darf angenommen werden, siedelten Menschen in dieser Gegend: Archäologische Funde legen nahe, dass auf dem Steinbeker Kirchberg schon in vorchristlicher Zeit eine Kultstätte existierte, die erste urkundliche Erwähnung der Kirche selbst, damals „St. Secundus“, datiert von 1239. Und oberhalb der Mündung des Schleemer Bachs in die Bille schützte ein Ringwall die Bauern der Gegend vor Überfällen. Im frühen 13. Jahrhundert wurde dieser Ringwall zur „Schiffbeker Burg“: 1216 baute Dänen-König Waldemar die Anlage zur Festung aus und kontrollierte von dort aus sowohl den Wasser- als auch den Landweg von Hamburg nach Osten. Er belagerte und eroberte die Stadt, sein Statthalter, der thüringische Graf Albrecht von Orlamünde, residierte in der Burg. Doch schon wenige Jahre später wendete sich das Kriegsglück. 1225 zerstörten die Hamburger die Festung, 1227 vertrieb Adolf IV. von Schauenburg die Dänen aus Holstein. Als „Spökelburg“ bezeichnen die Billstedter die inzwischen mit hohen Bäumen bewachsenen Wallreste bis heute. Denn um die mittelalterliche Anlage ranken sich unheimliche Legenden. Von einer goldenen Wiege ist da die Rede, vom Geist einer grausamen Gräfin und von abenteuerlicher Schatzsuche. Die Geschichte der Gegend im kriegerischen 17. Jahrhundert ist durch eine wertvolle Quelle überliefert: Bis heute ist die Steinbeker Kirchenchronik der Pastoren Ananias Hoetenschlebius und Salomon Petri im Original in der Gemeinde erhalten. Die Chronik berichtet die Jahre 1627 bis 1683. Zum Beispiel, dass im Jahr 1634 Steinbek 175, Schiffbek 96 und Öjendorf 88 Einwohner hatte. Aber auch vom ersten Brand der Steinbeker Kirche am 4. Mai 1646 und ihrem Neubau 1664. Und immer wieder von Krieg, Pest und Flucht: Vom „Dreißigjährigen“ bis zum „Großen Nordischen Krieg“ – die strategisch bedeutsame Lage und die wohlhabenden Gehöfte und Mühlen ziehen Armeen und Landsknechte an. Immer wieder kommt es zu Plünderungen und Einquartierungen, immer wieder berichtet der Chronist davon, dass sich die Einwohner auf dem Gebiet des reichsfreien Hamburg – in Horn und Billwärder – in Sicherheit bringen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zogen wieder dunkle Wolken an der Bille auf. Mit dem Bau der „Franzosenbrücke“ über die Glinder Au im Jahre 1802 bereitete der dänische König Christian VII. den Einmarsch der Truppen Napoleons 1806 in Hamburg vor. 1813 wurden Schiffbek und Kirchsteinbek dann wieder zum Kriegsschauplatz. Die Franzosen unter Marschall Davout richteten Verteidigungsstellungen ein und requirierten Vieh und Lebensmittel, um sich auf eine Belagerung Hamburgs durch die Russen einzustellen. Am 16. Januar 1814 besetzten die russischen Truppen nach erbitterten Gefechten Schiffbek, die Bevölkerung verbrachte den Winter in großer Not.

Bald nach der Reichsgründung von 1871 machte sich an der Bille die Industrialisierung bemerkbar. 1876 errichtete die Farbholzmühle Zipperling & Kessler gleich unterhalb der „Spökelburg“ ein Werk nach neuesten Standards – mit Gleisanschluss und direkter Anbindungan den Hamburger Hafen durch die Bille. Importierte Hölzer wurden hier zu Farben verarbeitet. Zum Symbol der radikalen Veränderung der Lebens- und Arbeitswelt in unserer Region aber wurde die „Norddeutsche Jute-Spinnerei und -Weberei“, die 1883 den Betrieb aufnahm. Schiffbek war am stärksten von dem Entwicklungsschub betroffen: Mit 1.652 Einwohner hatte das einstige Straßendorf schon 1885 Kirchsteinbek weit überholt, fünf Jahre später wurden 3.840 Einwohner gezählt, 1925 waren es 8786 (Steinbek: 2-154, Öjendorf: 687). Schiffbek, aber auch Kirchsteinbek und Öjendorf wurden zu Arbeiterwohnorten. Die Sozialdemokratie stellte den Gemeindevorsteher, aber auch die Kommunisten hatten zahlreiche Anhänger. Noch bei den Reichstagswahlen im November 1932 konnte die SPD in Billstedt 2.533 (33%) und die KPD 2.023 (26,4%) Stimmen gewinnen. Neun Jahre zuvor hatte die Kommunistische Partei in Schiffbek den Klassenkampf auf die Straße getragen. Am Morgen des 23. Oktober 1923 stürmten Arbeiter die Polizeiwachen, bewaffneten sich, errichteten an den Ortseingängen Barrikaden und riefen die Räte-Republik aus: „Es lebe Sowjetdeutschland“ hieß es auf den frischen Plakaten an den Häuserwänden. Doch daraus wurde nichts. In der Berliner Parteiführung war zwar ein reichsweiter Revolutionsversuch überlegt, dann aber im letzen Moment verworfen worden. Der „Hamburger Aufstand“, der neben Schiffbek vor allem Barmbek und Eimsbüttel erfasste, blieb isoliert. Immerhin zwei Tage lang konnten die Kommunisten unter Führung von Fiete Schulze Schiffbek gegen Hamburger Polizeikräfte und Einheiten der „schwarzen“ Marine halten. Über die Zahl der Opfer der Straßenkämpfe in den Oktoberunruhen liegen nur ungenaue Angaben vor, in ganz Hamburg sollen 17 Polizisten und etwa 60 Kämpfer und Zivilisten ums Leben gekommen sein. In die Zeit der Weimarer Republik fällt die Geburtsstunde der Gemeinde Billstedt: Am 16. September 1927 beschlossen die Gemeinderäte von Schiffbek, Öjendorf und Kirchsteinbek, sich als „Billstedt“ zu vereinigen: Eine größere Gemeinde – 11.617 Einwohner und 1.617 Hektar Fläche – so die Erwartung, würde die öffentlichen Aufgaben wie Schulwesen, Bebauungspläne und öffentliche Versorgung besser bewältigen können. Nicht zuletzt die stärkere Position gegenüber der Stadt Hamburg war ein wichtiges Argument für den Zusammenschluss. Das jedoch war schon zehn Jahre später hinfällig. Durch das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 wurde die preußische Großgemeinde zum Stadtteil. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde in Billstedt die Arbeiterbewegung brutal zerschlagen. Aber es regte sich auch Widerstand. So wurde die Vervielfältigung und der Vertrieb der Broschüre „Konzentrationslager Oranienburg“ von einer SPD-Zelle in Billstedt organisiert. Die Geschichtsgruppe Sonnenland hat die Namen von acht Billstedtern ermittelt, die von den Nazis ermordet wurden: Josef Florczak, John Tretien, Fiete Schulze, Katharina Corleis, Kurt Vorpahl, Adolf Rembte, Paul Kroll und Heinz Priess. Von den Bomben des Zweiten Weltkrieges war Billstedt weniger betroffen als die westlich angrenzenden Stadtteile. Es gibt viele Hinweise auf einzelne Schäden, genaue Quellen aber sind rar. So wurde die Kreuzkirche im Juli 1943 zerstört. Und im Saal der St. Paulus Gemeinde, er war als Unterkunft beschlagnahmt worden, starben zwölf Zwangsarbeiter bei einem Luftangriff.

Die jüngste Geschichte des Stadtteils ist durch den Wohnungsbau und stetig wachsende Bevölkerungszahlen geprägt. Gleich nach dem Krieg entdeckten die Hamburger, dass es in Billstedt noch viel freie Fläche gab. Behelfsheime wurden zu Eigenheimen, und neue Siedlungsgesellschaften erschlossen die vormaligen Felder und Weiden auf der Geest. In den 60er und 70er Jahren fand die städtische Wohnungsbaupolitik in Billstedt den Platz, um den immensen Wohnungsbedarf zu decken. Ländliche Strukturen wurden immer mehr an den Rand gedrängt, eine Großsiedlung nach der anderen wuchs aus dem Boden: 1959 an der Möllner Landstraße (rund 1.300 Wohnungen), 1962 bis 1966 das Sonnenland (1.100 Wohnungen), 1964 die „Bullensiedlung“ an der Archenholzstraße (1.500 Wohnungen), 1968 Kaltenbergen (650 Wohnungen), 1971 die Dringsheide (500 Wohnungen) und schließlich ab 1972 Mümmelmannsberg, die „Stadt im Stadtteil“ mit über 7.000 Wohnungen. Allein zwischen 1950 und 1970 verdoppelte sich die Zahl der Einwohnerschaft von 23.000 auf 46.000. Damit ging der Ausbau des Strßennetzes, des öffentlichen Nahverkehrs und des Zentrums einher. Am 26. September 1969 wurden gleichzeitig die U-Bahn und der neue Billstedter Marktplatz eingeweiht. Das alte Billstedt – die Schule Möllner Landstraße, die Spinnhäuser und der Posthornstieg – verschwand unter Pflaster und Asphalt. An der Bille ist wohl am deutlichsten zu sehen, wie sehr die moderne Stadt, die Billstdt seit 1945 geworden ist, über Vergangenes hinweg geht. Schnurgerade zieht sich die vierspurige B5 über einige hundert Jahre Geschichte – die Jute, die Spökelburg, die Farbholzmühle – und trennt den Stadtteil vom Fluss, seiner einstigen Lebensader.

(Ingo Böttcher, In: Wir sind alle ein bisschen Billstedt. Hamburg 2002)