Planungen für ein Sammellager für Sinti und Roma in Öjendorf aus der NS-Zeit
Die Verfolgung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus war ein Prozess der systematischen Erfassung, Entrechtung, Ausgrenzung und Ermordung. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 waren Sinti und Roma in Deutschland immer stärkeren systematischen Benachteiligungen ausgesetzt und wurden zunehmend aus dem öffentlichen Leben verdrängt, diskriminiert und schikaniert. Ein einschneidender Verfolgungsschritt waren die Errichtung von kommunalen Zwangslagern in verschiedenen deutschen Großstädten wie Köln oder Berlin. Sinti und Roma wurden dort von der übrigen Bevölkerung getrennt und waren polizeilichen Kontrollen und rassenbiologischen Erfassungen ausgesetzt. Unter strenger Bewachung waren die Inhaftierten in den Lagern unmenschlichsten Bedingungen und willkürlicher Gewalt konfrontiert. Für viele Inhaftierte waren die Lager Ausgangspunkt für die späteren Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager im östlichen Europa.
In Hamburg begannen konkrete Planungen eines zentralen Sammellagers für Sinti und Roma im Herbst 1937 mit der Zusammenführung der vier Großstädte Hamburg, Wandsbek, Altona und Harburg-Wilhelmsburg. Die verantwortlichen Verwaltungen in Hamburg – das waren die Sozial- und Gesundheitsverwaltung sowie Polizei und Baubehörde – einigten sich nach Verhandlungen auf die Errichtung eines Lagers, in dem Sinti und Roma am Stadtrand unter Bewachung eingesperrt und von dort zu Zwangsarbeiten eingesetzt werden sollten.
Nach einem längeren Diskussionsprozess über den Standort und Fragen von Zuständigkeiten, beschlossen die Hamburger Behörden Ende September 1939 die Umsetzung eines zentralen Sammellagers auf einem Gelände zwischen Billstedt und Öjendorf, östlich des neuen Friedhofs. Zwischen dem heutigen Öjendorfer See und dem Jenfelder Bach sollte ein Lager mit „Wohnbaracken“ für rund 900 Männer, Frauen und Kinder entstehen. Unter Vorschlag des Bürgermeisters Vincent Krogmann sollte das mit Stacheldraht umzäunte Lager von Polizei bewacht und von den Inhaftierten nur zu Einsätzen von Zwangsarbeit verlassen werden dürfen. Den Lebensunterhalt sollten sich Sinti und Roma durch Zwangsarbeit in umliegenden Industriebetrieben und auf dem neuen Billstedter Friedhof selbst finanzieren. Für die Unterbringung in Baracken und für Wohnwagenstellplätze sollten Mietzahlungen an die Sozialbehörde geleistet werden. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass seitens der Bevölkerung, der Industriebetriebe oder Behörden ein Widerspruch gegen das geplante Lager eingelegt wurde. Neben einem Friedhof oder auf einem solchen zu arbeiten, empfinden viele Sinti und Roma als einen Affront.
Neben der Hamburger Baubehörde waren in der Planung des Sammellagers die Schul- und Gesundheitsbehörde involviert. Diese sollte Konzepte für die Beschulung der Kinder und für eine Krankenversorgung im Lager entwickeln. Beteiligt waren darüber hinaus das Arbeitsbeschaffungsamt, die Kämmerei sowie die Landesbezirksverwaltung und die zentrale Staatsverwaltung des Hauptverwaltungsamts in Hamburg. Als Vorbilder dienten der Stadt bereits seit 1935 bestehende Sammellager für Sinti und Roma in anderen Städten. Hierzu ließ sich die Hamburger Sozialverwaltung von zuständigen Stellen in Berlin oder Frankfurt am Main beraten.
Am 16. Oktober 1939 begann das Hamburger Garten- und Friedhofsamt mit ersten Baumaßnahmen in Billstedt-Öjendorf. Der begonnene Zweite Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen leitete allerdings neue Entwicklung in der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik gegenüber Sinti und Roma ein. Nicht mehr lokale politische Führungen und Behörden, sondern reichsweite Entscheidungsprozesse sollten die geplanten Deportationen von Sinti und Roma in das vom Deutschen Reich besetze östliche Europa vorantreiben. Die Baumaßnahmen zur Errichtung des Zwangslagers in Billstedt-Öjendorf wurden deshalb nach wenigen Tagen eingestellt. Mit einem „Festsetzungserlass“ vom 17. Oktober 1939 durch das Reichssicherheitshauptamt durften Sinti und Roma ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen. Mit dem Befehl begannen die konkreten Vorbereitungen der Deportation von Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich in das Generalgouvernement und der späteren Ermordung von ca. 500.000 Sinti und Roma.
Am 16. Mai 1940 wurden über 1.000 Männer, Frauen und Kinder aus Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremerhaven und der Weser-Ems-Region von der Kriminalpolizei gewaltsam festgenommen und im Fruchtschuppen C im Hamburger Freihafen eingesperrt. Bereits hier mussten Sinti und Roma Hunger, Durst und Gewalt ertragen. Nach vier Tagen wurden sie dann in einen Deportationszug mit Viehwaggons in das Zwangsarbeitslager Belzec in Polen entführt. Die Mai-Deportation bildete den Beginn von systematischen Verschleppungen von Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich. Ein Großteil der Betroffenen wurde später in Ghettos und Konzentrationslagern ermordet. Die Hamburger Behörden finanzierten diese Deportation mit Geldern, welche die Sozialverwaltung für die Errichtung des Sammellagers ins Billstedt-Öjendorf beantragt hatte.
Zahlreiche Akten aus der Sozialverwaltung, welche sich heute im Staatsarchiv Hamburg befinden, bezeugen, wie konkret und akribisch die Planungen eines bewachten Lagers für über 900 Hamburger Sinti und Roma gewesen sind. Die meisten von ihnen waren Reichsbürgerinnen und -bürger, führten ein unauffälliges Leben und hatten Kinder, die zur Schule gingen. In einem über eineinhalb Jahre währenden Planungsprozess wurden wiederholt Zuständigkeiten und Ideen für die genaue Umsetzung des Lagers in Hamburger Behörden diskutiert. Die Quellen belegen eindeutig: Eine Vielzahl von Hamburger Ämtern und Behörden war an den Planungen des Lagers beteiligt und genaustens informiert. Im heutigen Öjendorfer Park erinnert nichts mehr an das dort geplante Verbrechen an Sinti und Roma und auch im öffentlichen Bewusstsein ist kaum Wissen über die Planungen eines Sammellagers vorhanden.