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Gesellschaftliches Leben im Arbeiterquartier

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts betrug die wöchentliche Arbeitszeit meist 60 Stunden. Gewöhnlich wurde von Montag bis Samstag von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends mit recht großzügigen Pausenzeiten gearbeitet. Vorher war die Arbeitszeit zum Teil noch länger gewesen. Später sank sie allmählich, ehe sie nach Ende des Ersten Weltkriegs auf Drängen der Sozialdemokraten und Gewerkschaften auf 48 Stunden gesenkt wurde. Und auch im Haushalt war die Arbeit deutlich zeitaufwändiger als heute: Es gab weder Waschmaschinen noch Geschirrspüler oder Kühlschränke. Für das Kochen, für warmes Wasser und zum Heizen mussten Kohleöfen betrieben werden. Bis zur Verbreitung des elektrischen Stroms wurden die Wohnungen meist mit Petroleumlampen beleuchtet.
Gleichwohl die freie Zeit, die neben den Notwendigkeiten des Alltags blieb, also deutlich kürzer ausfiel als heute, entwickelte sich im Schiffbeker Arbeiterquartier doch ein umfangreiches gesellschaftliches Leben. Eine zentrale Rolle spielten dabei die örtlichen Gasthäuser. Im Jahr 1908 verfügte der Ort über 13 Lokale. Das größte war das Haus von Vocke mit seinem 1906 errichteten Saal für bis zu 1000 Besucher. Die Lokale waren nicht nur Fluchtpunkt, um die zum Teil drangvolle Enge der Wohnungen hinter sich zu lassen, sondern hier gab es auch ein umfangreiches kulturelles Angebot. Regelmäßig richteten die Gastwirte Tanzveranstaltungen aus. Es gab Theateraufführungen und Konzerte und ab 1906 auch erste Kinovorführungen. In der Folgezeit entwickelte sich das bei der heutigen Legienstraße gelegene Schleswig-Holsteinische Wappen zu einem reinen Kino, das als Ose-Palast bis weit in die 1960er Jahre im Hamburger Osten eine große Rolle spielte. Daneben gab es verschiedene Wandergewerbe, die vorübergehend für Unterhaltung sorgten, beispielsweise Tanz- und Anstandslehrer, Komiker und andere Bühnenkünstler.
Gleichfalls vorübergehend gastierten im Ort Zirkusse sowie Schausteller mit ihren Attraktionen und Fahrgeschäften. Teils war es nur ein einzelnes Karussell, teils schon fast ein kleiner Jahrmarkt. So gab es Shows mit Pferden, Wölfen, Löwen, Hyänen und Schlangen, ein „Theater optischer Illusionen“, Wahrsager und die „weiße Negerin Amanua“ als angeblich „größtes Wunder der Schöpfung und größte Abnormität der Welt“. 1912 wurde erstmals eine „Berg- und Talbahn“ angeboten.
Die Lokale dienten aber auch den zahlreichen Vereinen im Ort als Versammlungs- und Auftrittsort. Den Anfang im Schiffbeker Vereinsleben hatte 1873 die Liedertafel Schiffbek gemacht, die von den Arbeitern eines Eisenwerks gegründet worden war. Später kamen weitere Chöre und Musikklubs, beispielsweise ein Harmonikaklub, ein Bandoneonsklub und ein Zitherverein, Theatergruppen, ein katholischer, ein böhmischer und ein deutsch-österreichischer Geselligkeitsverein, Kegelklubs, Skat- und Pfeifenklubs, ein Brieftaubenklub, Vereine für Ziegen- und Nutzgeflügelzucht, ein Verschönerungs- und ein Volksbildungsverein, ein Radfahrerverein und eine Arbeiter-Sanitätskolonne hinzu. 1883 wurde die Freiwillige Feuerwehr gegründet, 1889 die Militärische Kameradschaft Schiffbek, 1904 der Bürgerverein. Neben ihrem eigentlichen Vereinszweck richteten die Vereine zum Teil auch öffentliche Veranstaltungen, Ausfahrten, Maskeraden und Weihnachtsfeiern aus.
Eine große Rolle im Schiffbeker Vereinsleben spielten schließlich auch die Sportvereine. Als erstes entstanden die Turnvereine: Auf die Turnvereinigung „Frisch auf“ folgten 1891 der Männer-Turn-Verein Schiffbek und 1898 der TV Gut Heil. Bei letzterem wurde dann wohl ab 1906 zunächst sporadisch auch Fußball gespielt, ehe 1913 mit dem Verein für Rasensport und dem SC Vorwärts zwei reine Fußballclubs entstanden. 1921 wurde ein Schwimmverein gegründet. 1927 folgte ein Boxclub, 1931 ein Schützenverein sowie ein Tanzverein. Die Turnvereine nutzen für ihre Übungszeiten die Säle der Schiffbeker Gastwirtschaften sowie einen Raum der Jutespinnerei und -weberei. Ab 1906 verfügte der TV Gut Heil am heutigen Schöfferstieg neben einem Turnplatz, der auch für Faustball- und Fußballspiele genutzt wurde, über eine eigene, von den Mitgliedern finanzierte Halle. Die beiden Fußballclubs richteten ihre Plätze im Bereich der heutigen Reclamstraße ein. Der Schützenverein nutzte eine Schließbahn auf dem Gelände des heutigen Hein-Klink-Stadions, das damals gerade angelegt wurde.
Bereits im Jahr 1903 hatte der Ort am Schleemer Bach eine Flußbadeanstalt erhalten. Ab 1910 richtete die Gemeinde dann auf dem Gelände des ehemaligen Schleemer Hof einen öffentlichen Park ein. Gleichfalls als Naherholungsgebiet wurden das Schiffbeker Moor und das Areal des heutigen Öjendorfer Parks genutzt, das damals noch eine ursprüngliche Heidelandschaft war. Gerade bei den Anhängern der Freikörperkultur war dieses Gebiet sehr beliebt. Die Ausflüge des Radfahrervereins führten über vielfach noch unbefestigte Wege und bis zu 60 km ins Hamburger Umland.
Gleichfalls im Jahr 1903 hatte der Volksbildungsverein eine „Volksbibliothek“ eingerichtet, in der man unentgeltlich und ohne Pfand oder Bürgschaft Bücher entleihen konnte. Der Kindergarten der Jute konnte abends von unverheirateten Arbeitern als Lesesaal genutzt werden. Seit 1902 war zudem die Guttempler-Loge I.O.G.T., eine Anti-Alkoholbewegung, im Ort aktiv; im Jahr 1904 eröffnete sie ihr eigenes Logenhaus, in dem regelmäßig Unterhaltungs- und Aufklärungsveranstaltungen angeboten wurden.
Und schließlich engagierten sich auch die christlichen Kirchen in der Gemeinde. Die evangelische Kirche richtete 1895 eine Hilfspredigerstelle ein, die zwei Jahre später in eine feste Predigerstelle umgewandelt wurde. Nachdem die Gottesdienste zunächst in den Räumlichkeiten der Jute abgehalten worden waren, konnte 1896 die Kirche am Kreuzkirchenstieg eingeweiht werden. 1906 folgte dann die Erhebung der Gemeinde in die Eigenständigkeit, 1912 die Fertigstellung von Gemeindehaus und Pastorat an der heutigen Billstedter Hauptstraße. Dem Pastor stand eine Diakonisse zur Seite, die einen Frauenverein betreute und Hausbesuche bei bedürftigen Familien machte. Es wurde eine Krippe für Säuglinge eingerichtet und man rief Vereine für junge Männer sowie junge Frauen und einen Kirchenchor ins Leben. Für Kinder bot man gegen eine kleine Gebühr Bastel- und Handarbeitskurse, eine Kinderbücherei, eine monatliche Kinderversammlung und Ferienwanderungen an. Die katholische Gemeinde, die sich ab 1885 entwickelt hatte, hatte 1895 im heutigen Hertelstieg eine kleine Notkirche und 1911 ein eigenes Pfarramt erhalten. Nachdem bereits 1912 am Öjendorfer Weg ein Grundstück für eine größere Kirche erworben worden war, dauerte es bis 1929, ehe das neue Gotteshaus eingeweiht werden konnte.
Immer größere Bedeutung erlangten die politischen Verbände. Die SPD und die Gewerkschaften hatten schon vor dem Ersten Weltkrieg eine große Anzahl von Mitgliedern in Schiffbek. Zu Beginn der 1920er Jahre fanden dann auch andere reichsweit organisierte Parteien hier Anhänger und gründeten Ortsgruppen. Besonders viel Zulauf fanden die von der SPD abgespaltene USPD und dann die KPD. Eine Ortsgruppe der NSDAP wurde im Juli 1931 gegründet. In der Folge gab es neben politischen Demonstrationen auch zahlreiche blutige Auseinandersetzungen. Die Gleichschaltung des gesellschaftlichen Lebens nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahr 1933 führte dann zu einem Niedergang der bis dahin blühenden, von zahlreichen Vereinen getragenen vielfältigen Arbeiterkultur.