go to content

Menu

Meine Kindheit im Cottaweg. Erzählt von Petra David und Anne Molter. Aufgeschrieben von der Geschichtswerkstatt Billstedt

Mein Name ist Petra David. Ich bin im Dezember 1958 in Hamburg geboren und gemeinsam mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Anne bei meinen Eltern in Öjendorf aufgewachsen. Zunächst haben wir bei meiner Oma mütterlicherseits in der Merkenstraße 42 gewohnt. Das Haus existiert noch heute. Bei ihm handelt es sich um ein schlichtes eingeschossiges Gebäude aus Backstein. Damals war es regelrecht bruchreif, mitunter hatten wir Eis und Wasser an den Wänden.

Meine Großmutter stammte aus Heeslingen, wo sie im Jahr 1901 geboren wurde. Ihren ersten Mann hat sie kennengelernt, als dieser dort nach dem Ersten Weltkrieg als Elektriker-Gehilfe Stromleitungen verlegt hat. Sie ist dann mit ihm zusammen zu seinen Eltern nach Dulsberg gezogen. Ihr Schwiegervater war Straßenbahnschaffner. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor, der bei den Schwiegereltern blieb, nachdem meine Oma im Jahr 1931 schuldhaft geschieden worden war. Ihr zweiter Mann hieß Christoph Schmolling, war Jahrgang 1880, Sozialdemokrat seit 1900 und Gewerkschafter, hatte ebenfalls bereits eine Ehe hinter sich und arbeitete als Schmied in Öjendorf. Die beiden heirateten im Jahr 1937 und waren bitterarm. Meine Mutter Christa war ihr einziges gemeinsames Kind. Meinen Opa habe ich nicht mehr kennengelernt. Er starb im Jahr 1956.

Mein Vater hieß Wilhelm Heinrich Molter und wurde im Jahr 1915 in Luxemburg geboren. Seine Mutter stammte aus Gotha in Sachsen. Da hat sie ihren ersten Mann kennengelernt. Dieser stammte aus Elsass-Lothringen und war nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs dort stationiert worden. Als er an die Front verlegt wurde, folgte sie ihm. Zwei Jahre nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes ist er dann gefallen. Daraufhin ist sie mit ihrem kleinen Jungen ins Ruhrgebiet übergesiedelt und dort nacheinander drei unglückliche Ehen eingegangen. Während des Krieges und auch in der Zeit danach hat unser Vater sehr unter der schlechten Versorgungslage gelitten. Wie etwa 80 Prozent der Kinder im Ruhrgebiet in dieser Zeit hatte er Rachitis, wodurch seine Rippen verbogen waren, und er ist nicht sehr groß geworden. Darüber hinaus wurden er und seine Mutter häufig von seinen Stiefvätern, die zum Teil Alkoholiker waren und alle früh starben, schwer misshandelt. Nach der Schulzeit machte er zunächst eine Schmiedelehre und zog dann als Landarbeiter und Artist durch die Welt. Eine Zeitlang arbeitete er auf Jahrmärkten als Motorradsteilwandfahrer. In all diesen Jahren lebte er wohl mehr schlecht als recht. Immer wieder wurde er straffällig und landete im Gefängnis, etwa wegen Einbrüchen, Viehdiebstahl und Schächtung. Grundsätzlich war er ein ziemlicher Luftikus und Angeber, und zudem auch ein Choleriker.

Als ihm nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Einberufung zur Wehrmacht zugestellt wurde, floh er nach Frankreich, da er durch seinen Vater auch französische Papiere hatte. Bald nach der deutschen Besetzung des Landes wurde er aufgegriffen, im Gestapo-Gefängnis in Trier gefoltert und nach einem guten halben Jahr wegen Spionage angeklagt. Zwar konnte man ihm diese nicht nachweisen, aber dennoch verbrachte er die Zeit bis Ende des Krieges im Konzentrationslager Sachsenhausen und seinen Außenlagern. Ab August 1941 wurde er von Sachsenhausen in das Männerlager Ravensbrück überstellt und musste dort die Siemenswerkstätten mit aufbauen. Das Männerlager bestand aus fünf Baracken mit überwiegend politischen Gefangenen. Die Todesrate lag dort bei 50 Prozent. Später stand er dann auf einer Transportliste für das Todeslager Stutthof-Natzweiler, kam dort aber nie an. Stattdessen landete er vermutlich in einem kleinen Außenlager in Babelsberg-Potsdam, wo ungefähr hundert Häftlinge aus Sachsenhausen beim Bunkerbau eingesetzt wurden.

Als der Zusammenbruch des Dritten Reichs unmittelbar bevorstand, kehrte er schließlich zusammen mit einem anderen Häftling nicht mehr in das Lager zurück. Stattdessen schlug er sich nach Klein Machnow durch, wo er nach einiger Zeit heiratete und Vater eines Sohnes wurde. Die Insassen des Männerlagers KZ Sachsenhausen waren überwiegend politische Häftlinge gewesen. Die Betreuungsstelle der Opfer des Faschismus in der Gemeinde Klein Machnow erteilte der dort ansässigen Firma Autokrupka eine Bescheinigung zum Transport von Personen und Lebensmittel. Die Besatzungsbehörden wurden gebeten, die Fahrer ebenso wie das Fahrzeug ungehindert passieren zu lassen. Zusammen mit einem Fahrer dieser Firma nutzte mein Vater diese Möglichkeit weidlich aus. Er fälschte die Transportbescheinigung, machte Touren auf eigene Rechnung und betrieb einen florierenden Schwarzhandel mit russischen Offizieren, wobei er vor allem Pelze gegen Lebensmittel tauschte. Viele Male landete er im Gefängnis, wo ihn jedes Mal seine Frau mit dem Hinweis auf seine Haft als politischer Häftling im KZ Sachsenhausen herausholte. Nach Gründung der Bundesrepublik und der DDR blieb er zunächst in letzterer und machte auch dort alles, was seinem persönlichen Vorteil diente. Immer wieder landete er auch hier im Gefängnis, unzählige Stasi-Akten dokumentieren dies. Seine Frau ließ sich von ihm scheiden, und schließlich wurde er in die Bundesrepublik ausgeschleust.

Im August 1957 siedelte er von Dortmund in ein Wohnlager für obdachlose Männer im Billbrookdeich 182 über. Meine Mutter arbeitete damals in unmittelbarer Nähe bei der Großwäscherei BOCO, die ebenfalls am Billbrookdeich lag. Kennengelernt haben sich unsere Eltern dann den Erzählungen nach bei einem Kinobesuch in der „Rampe“ in Horn. Nach der Heirat lebten sie zunächst bei meiner Oma in der Merkenstraße.

Im Jahr 1963 konnten wir schließlich in den Cottaweg übersiedeln. Dort waren in den Jahren 1956 bis 1961 mehrere Zeilen mit kleinen Reihenhäusern sowie einige dreigeschossige Wohnblocks mit errichtet worden. Die Häuser verfügten über Fassaden aus rotem Backstein und Satteldächer. In einem der Etagenhäuser erhielten wir eine Dreizimmerwohnung. Den Vormietern, die Erstbezieher gewesen waren, war gekündigt worden, da sie die Miete nicht mehr bezahlt hatten.

Die Wohnung wurde mit Kohleöfen beheizt, die man bald gegen Ölöfen austauschte. Das Heizöl lagerten wir in Kannen im Keller. Anfang der 1970er Jahre stellte unser Vater dann auf eigene Rechnung auf Gasheizung um. Die Vormieter hatten ihre Kohlen in der Badewanne aufbewahrt, die unsere Mutter wochenlang schrubben musste, bis man sie wieder als solche nutzen konnte. Der Herd war elektrisch, und Wasser wurde mit einem Durchlauferhitzer erwärmt. Küche und Bad waren klein. Letzteres hatte kein Fenster, sondern lediglich eine Lüftung, und verfügte neben der Badewanne über eine Toilette sowie ein kleines Waschbecken. Die drei Zimmer dienten als Schlafzimmer für unsere Eltern, als gute Stube, die nur am Wochenende und bei Besuch genutzt wurde, und als Esszimmer. Das Esszimmer war zugleich auch das Schlafzimmer von meiner Schwester und mir.

Unseren Lebensunterhalt verdiente in erster Linie unsere Mutter, die bis zu ihrer Rente bei BOCO blieb. Unser Vater arbeitete aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme nur gelegentlich, und dann meist als Bauarbeiter, etwa beim Bau der U-Bahn nach Billstedt, wo auch eine Schmiede betrieben wurde, oder in Glinde, als dort die Hochhäuser errichtet wurden. Er hatte große Probleme, sich irgendwem unterzuordnen. Oft war er aber auch einfach nur zuhause. Dann hat er für uns Frühstück gemacht und Mittagessen gekocht. Um den Haushalt hat sich dennoch unsere Mutter gekümmert, auch wenn sie nur wenig zuhause war, weil sie eigentlich immer nur gearbeitet hat.

Unser Vater konnte hervorragend kochen, und es war ihm immer sehr wichtig, dass genug zu essen da war. Ich glaube, das war eigentlich das Einzige, was ihm wirklich wichtig war. Vermutlich war dies eine Folge des Mangels und Hunger, den er in all den Jahren erlebt hatte. Bei einem Bauern in Havighorst bestellten wir immer ein Viertelrind und ein halbes Schwein. Wenn das Fleisch abgeholt werden konnte, wurde unser Esszimmer leergeräumt, und es kamen einige Nachbarn und Freunde zum Helfen. Dann wurden an einem Wochenende, so zwei bis drei Nächte lang, gemeinschaftlich Würste und andere Fleischwaren hergestellt. Als ich größer war, musste ich auch mithelfen. Das war wirklich viel Arbeit. Anschließend brachten wir die Sachen mit einem Schlitten zur Räucherei Habel. Das war ein riesiges düsteres, speckiges und verrauchtes Gebäude, das südlich des Louisenhofs lag. Es gab eine Halle für die Anlieferung und Abholung, in der mehrere Mitarbeiter an Tischen die Rauchwaren entgegennahmen und später wieder herausgaben. Viele Bauern aus der Umgebung brachten ebenfalls ihre Sachen zum Räuchern hierher.

Durch seine KZ-Haft war unser Vater Zeit seines Lebens traumatisiert. Er konnte nachts nicht schlafen, ist dann mit seinem Fahrrad durch die Gegend gefahren und hat unterwegs alles Mögliche geklaut. Im Frühjahr brachte er Spargel mit, im Sommer mitunter tonnenweise Erdbeeren, im Winter Rosenkohl. Wir und unsere Oma mussten das dann alles verarbeiten. Es wurde eingekocht und im Keller eingelagert, wo auch die Würste und Schinken aus der Räucherei hingen. Das war alles voll, und man durfte davon niemandem erzählen. Dass man durch Diebstähle seine Lebenssituation verbesserte, war in unserer Siedlung weit verbreitet. So tauchten beispielsweise im Keller eines Nachbarn immer wieder Autoteile auf und verschwanden nach einiger Zeit wieder, obwohl er selbst gar kein Auto hatte.

Die viele freie Zeit, die unser Vater hatte, nutzte er mitunter, um mit meiner Schwester und mir etwas zu unternehmen. Wir machten zusammen tolle Fahrradtouren. Im Sommer ging er mit uns zum Baden an den Öjendorfer See, wo er uns auch das Schwimmen beibrachte. Im Winter rodelten wir mit ihm bei Schnee im Öjendorfer Park. Sicherlich holte er dabei auch ein wenig die Kindheit nach, die er selbst nicht gehabt hat.

In unserer Siedlung wohnten unzählig viele Kinder. Zum Teil waren es sechs oder sogar sieben in einer Familie. Da wurde dann auch der Keller der kleinen Reihenhäuser, die im Erdgeschoss lediglich über Küche und Wohnzimmer und im Obergeschoss über drei kleine Schlafräume verfügten, zu Schlafräumen ausgebaut. Aufgrund der großen Enge in den Wohnungen mussten wir Kinder im Sommer wie im Winter raus auf die Straße. Da waren dann regelrechte Kinderhorden unterwegs. Und es war damals noch möglich, dort zu spielen, weil kaum Autos fuhren. In der Mitte der Siedlung gab es zwischen den Reihenhäusern einen Spielplatz. Manchmal waren dort mehr als fünfzig Kinder gleichzeitig. Dann ging es da mitunter ziemlich turbulent zu. Gerne spielten wir auch am Schleemer Bach und auf den Wiesen beim Louisenhof, auf denen gerade kein Vieh weidete. Und im Sommer gingen wir oft in das Billstedter Schwimmbad, in dem schon unsere Mutter schwimmen gelernt hatte und das sich seitdem überhaupt nicht verändert hatte.

In der Merkenstraße befand sich zudem ein Haus der Jugend, wo man einfach hingehen konnte. Ich war dort sehr gerne, weil es dort Unmengen an Spielzeug gab, was wir zuhause nicht hatten. Da wurde höchstens mal an einzelnen Winterabenden zusammen Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt, aber auch das nur sehr selten. Am liebsten saß ich alleine im Untergeschoss und spielte dort mit den Puppen. Oben gab es unter anderem einen Tischkicker, der sehr beliebt war. Gewöhnlich waren dort etwa zwanzig bis dreißig Kinder, die von zwei Ehrenamtlichen betreut wurden. Bei schlechterem Wetter war es auch deutlich voller. Es waren tolle Leute, die dort gearbeitet haben. Wenn es Streit gab, wurde er von ihnen geschlichtet. Und eine Mutter hat gelegentlich Kinder zum Basteln mit zu sich nach Hause genommen. Wenn ich im Keller mit den Puppen spielte, schaute ab und zu einer der Betreuer vorbei um zu sehen, ob bei mir alles gut war. Das hat mich immer gerührt, denn unsere Eltern wussten oft den ganzen Nachmittag nicht, wo wir waren. Manchmal war unsere Mutter auch genervt, weil sie uns nicht finden konnte oder nicht wusste, mit welchen anderen Kindern wir gespielt haben. Die meisten Eltern hat das allerdings überhaupt nicht interessiert. Von Zeit zu Zeit gab es im Haus der Jugend auch Kasperle-Theater. Diese Geschichten zu hören, war das Tollste für uns. Wir haben dann immer von unserer Mutter das Geld für die Vorstellung erbettelt, und es auch immer bekommen. Einmal im Jahr wurde auf der Wiese vor dem Haus der Jugend ein Sommerfest für alle Kinder veranstaltet. Mit vielen Spielen und einer Tombola war das auch immer ein Highlight.

Direkt neben dem Haus der Jugend befand sich in der ehemaligen Öjendorfer Gemeindeschule ein Jungenhort. Dorthin durften nur Jungs, die von ihren Eltern angemeldet worden waren. Meine Schwester, die recht burschikos war, ist trotzdem oft da gewesen und gewöhnlich auch nicht weggeschickt worden. Die größte Attraktion war dort ein Schwingseil, das an einem hohen Baum befestigt war. Wenn der Hort abends geschlossen worden war, sind dann alle Kinder dorthin gegangen und haben die Außenanlagen genutzt. Und schließlich gab es in dem kleinen Einkaufszentrum an der Ecke Möllner Landstraße/Steinbeker Marktstraße neben Apotheke, Drogerie, Zigarettenladen, einem kleinen Geschäft mit Kinderkleidung, einer chemischen Reinigung und der Praxis des Allgemeinmediziners Dr. Behrmann, der auch Hausbesuche machte, eine Bücherhalle, in die meine Schwester und ich ab und zu gegangen sind. Drogerieartikel konnte man damals aber auch in den beiden Lebensmittelgeschäften von Wulff und Niemeyer in der Merkenstraße kaufen. Später eröffnete dann gegenüber dem kleinen Einkaufszentrum an der Steinbeker Marktstraße im Erdgeschoss eines Neubaus eine Filiale der PRO.

In einigen Reihenhäusern unserer Siedlung wohnten auch Sinti und Roma. Zum einen war dies die Familie L., die direkt gegenüber der Zuwegung zu unserem Wohnblock ein Reihenhaus hatten. Frau L. war eine wunderschöne Frau, die sich immer sehr elegant bewegt hat. Obwohl sie noch sehr jung war, hatte sie bereits drei kleine Kinder. Die Tür stand dort immer offen, und die Familie war sehr freundlich zu uns. Im Gegensatz zu vielen anderen in der Siedlung waren sie immer sehr herzlich und entspannt. Obwohl unsere Eltern es uns strikt verboten hatten, waren wir häufig dort und haben dann Fernsehen geschaut, was wir zuhause nur selten durften. Die Familie hielt sich auch Hühner, die sie von Zeit zu Zeit schlachtete. Der kleine Sohn liebte es dann, uns mit den Hühnerfüßen zu jagen, die noch zuckten. Oft waren auch Verwandte zu Besuch, und einmal hat die Oma meiner Schwester eintätowierte Zahlen auf ihrem Unterarm und auf dem des Großvaters gezeigt und ihr dazu etwas erzählt. Meine Schwester hat nur verstanden, dass es etwas sehr Heftiges gewesen sein muss. Erst viel später wurde uns klar, dass dies ihre Häftlingsnummern aus dem Konzentrationslager Auschwitz waren, in dem in der Zeit des Nationalsozialismus mehr als eine Million Menschen ermordet worden waren. Zum anderen wohnte in der Südwestecke unserer Siedlung in mehreren Reihenhäusern die Familie W.. Dort weitete sich die Straße ein wenig zu einem Platz, auf dem sie bei gutem Wetter oft mit vielen Leuten zusammensaß. Das war immer sehr gesellig, aber man hatte das Gefühl, dass man dort nicht willkommen war. Man fühlte sich beobachtet, es gab dort auch ältere Jugendliche und Streit. Deshalb ließ man sie lieber in Ruhe.

Die Familien der Sinti und Roma hatten jede einen Mercedes und einen Wohnwagen. Das war damals sehr ungewöhnlich und wurde von den übrigen Bewohnern mit einigem Neid betrachtet. Dass sie für das erlittene Unrecht während der NS-Zeit Entschädigungen erhalten und ansonsten auch kaum etwas hatten, wurde aber nicht thematisiert. Einmal im Jahr kamen im Sommer zahlreiche Verwandte der W. und L. mit ihren Limousinen und Wohnwagen zu Besuch. Mitunter waren es dreißig bis zu vierzig Gespanne, die für einige Tage auf dem Cottaweg standen. Dann war da immer Vollalarm: Sie standen um ihre Fahrzeuge herum und haben da gekocht, und die deutschen Bewohner fanden das alles gar nicht witzig. Schließlich gingen die Sinti und Roma dann für mehrere Wochen gemeinsam auf Tour, während von den deutschen Familien fast niemand in den Urlaub fuhr.

Ich selbst habe mit den Sinti und Roma aus unserer Siedlung nie schlechte Erfahrungen gemacht, aber die erwachsenen Deutschen hatten vor ihnen ziemliche Angst. Meine Schwester hat einmal mitbekommen, wie fünf Mitglieder der Familie W. sich im Lebensmittelgeschäft von Niemeyer die Taschen vollgemacht haben und dann gegangen sind, ohne zu zahlen. Und als sie mit einem Jungen befreundet war, dessen Schwester mit einem W. liiert war, hatte sie Ruhe im Viertel und konnte machen, was sie wollte. Eine Arbeitskollegin berichtete mir später einmal, ihr Vater hätte sie gewarnt, mit dem Auto in den Cottaweg zu fahren, da die dort lebenden Sinti und Roma Unfälle provozieren würden, bei denen man selbst die Schuld trägt. Aber letztlich war das nur eine Geschichte vom Hörensagen.

Im Jahr 1964 wurde ich in der frisch eröffneten Schule in der Archenholzstraße eingeschult, meine Schwester folgte mir zwei Jahre später. Nach der Grundschule wechselten wir zur Haupt- und Realschule an der Öjendorfer Höhe. Die Klassen waren mit mehr als vierzig Kindern sehr groß. Die älteren Lehrer waren zum Teil regelrecht gruselig, etwa der Schulleiter Herr Niß an der Schule Öjendorfer Höhe. Er war dick und laut und hat immer wieder vom Krieg erzählt. Der erste Klassenlehrer meiner Schwester war Alkoholiker, hatte immer ungekämmte Haare, trug den Pullover häufig seitenverkehrt, hatte sein Hemd manchmal falsch zugeknöpft und sah immer ein bisschen abwesend aus. Und auch unter den jüngeren Lehrern hatten wir einen, der sich zwar äußerlich ganz locker gab, aber im Unterricht immer wieder cholerisch herumgebrüllt hat. Meine Schwester hatte immer große Angst vor den Lehrern, die zum Teil auch mit dem Schlüsselbund nach den Kindern warfen, wusste nie so richtig, was sie von ihr wollten, hat häufig von anderen abgeschrieben und so selbst nichts gelernt. Da wir zuhause kein richtiges Kinderzimmer hatten, fand man dort aber auch wenig Ruhe, um etwas für die Schule zu machen. Doch man konnte auch Glück haben: So bekam ich an der Schule Öjendorfer Höhe den jungen Referendar Alf Rohloff als Klassenlehrer. Er war Sozialdemokrat und ein toller Lehrer, verfügte über viel Energie und Humor und hat mit uns Kindern unter anderem oft gesungen. Außerdem organisierte er für uns Bildungsseminare am Großensee, bei denen es um das Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, gewerkschaftliche Arbeit und betriebliche Mitbestimmung ging. In der 10. Klasse machten wir dann eine Abschlussfahrt nach Berlin, wo wir gegen den Willen einiger Eltern auch einen Tag in Ostberlin verbrachten.

Ein Segen war es, dass in den 1970er Jahren Studierende der Universität Hamburg am Freitagabend in unserer Schule „politische Bildung für Arbeiterkinder“ anboten. Ich war damals etwa 16 Jahre alt und aus meiner Klasse die Einzige, die dort hinging. Außerdem waren da noch einige Kinder aus der Parallelklasse sowie zwei Jungen vom Gymnasium Billstedt. Bald kam dann auch meine Schwester mit. Dies hat uns eine Welt eröffnet und uns regelrecht gerettet. Zuhause gab es nur die Bild-Zeitung – die Morgenpost ging gar nicht – und in den Familien wurde auch nicht wirklich geredet, es wurde nicht politisch geredet, es wurde eigentlich gar nicht geredet, es wurde gehandelt und überlebt, wie auch immer. Nun lernten wir Leute aus anderen Stadtteilen kennen, besuchten unsere Betreuer in ihren Wohngemeinschaften im Uni-Viertel und bei der Christuskirche und gingen mit ihnen zu Demonstrationen und politischen Veranstaltungen ins Audimax. Der eine Junge vom Billstedter Gymnasium wurde dann auch bald mein erster Freund.

In unseren Schulen waren auch einige wenige Kinder mit ausländischen Wurzeln. In meiner Klasse gab es lediglich ein Mädchen aus Italien, das gut integriert war. Ich bewunderte sie vor allem dafür, dass sie im Sommer immer mit ihren Eltern mit Auto und Wohnwagen nach Sizilien gefahren ist. Irgendwann hat sie mir dann einmal erzählt, dass das gar nicht so toll war. Sie musste nämlich während der Fahrt zusammen mit ihren Geschwistern in dem Anhänger sitzen, und sie haben auf der Hin- und Rückfahrt jeweils viele Tage auf der Autobahn sowie auf Rastplätzen zugebracht. In der Klasse meiner Schwester war ein türkisches Geschwisterpaar, das dort ebenfalls gut aufgehoben waren. Gerade für die Mädchen war dies interessant, da es etwas Neues war. Doch grundsätzlich waren Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sehr weit verbreitet. So gab es in meiner Parallelklasse ein türkisches Mädchen, das fast in jeder Pause geschlagen wurde. Und meine Schwester erlebte es mit, dass ein schwarzer Junge, der einige Jahre jünger war als sie, in den Pausen immer wieder von anderen Kindern über den Pausenhof gejagt und verprügelt wurde. Als er dabei einmal einen Schuh verlor und sie diesen aufhob und ihm wiedergab, fanden ihre Mitschüler das bescheuert. Der Junge hat erst auch vor ihr große Angst gehabt, sich dann aber mit ihr angefreundet. Die Lehrer schritten bei diesen Übergriffen nicht ein und machten sie auch nicht zum Thema. Nach einiger Zeit wechselte der Junge dann auf eine andere Schule.

Auch bei uns in der Siedlung war der Umgang und Ton ziemlich rüde. Es waren viele einkommensschwache Familien mit einem geringen Bildungsniveau. Auch unsere Eltern hatten gerade einmal den Hauptschulabschluss. Es waren alles Kriegsgebeutelte, einige Männer hatten im Krieg einen Arm verloren oder waren anderweitig verstümmelt. Keiner hat erzählt, woher er kam. Alle hatten Schlimmes erlebt und wollten vergessen und das Leid der anderen nicht hören. Als ich später in einem anderen Stadtteil Hamburgs lebte, wurde mir bewusst, dass es einen regelrechten Billstedter Dialekt gab, der sich insbesondere durch seine Schroffheit auszeichnete.

In der ganzen Siedlung, auch in den Reihenhäusern, herrschte eine hohe Spannung und Aggressivität. Grobe Gewalttätigkeit war an der Tagesordnung. Dabei gab man sich wenig Mühe, die Auseinandersetzungen vor anderen zu verbergen. Konflikte innerhalb der Familien wurden lautstark und vielfach körperlich ausgetragen. Durch die dünnen Wände und über die Versorgungsschächte konnte man oft jedes Wort verstehen. Wenn die Männer ihre Lohntüte, die sie immer freitags erhielten, nicht nach Hause, sondern über Nacht in den Kneipen durchbrachten, trauten sich die Kinder nicht nach Hause, da der Vater betrunken war und die Mutter durchdrehte, weil dies für die Familien dann häufig eine Woche Hunger bedeutete. Männer jagten ihre Frauen und Frauen ihre Männer durch die Straße, und bei Auseinandersetzungen zwischen Nachbarinnen kam es vor, dass sich die Kontrahentinnen gegenseitig fast sämtliche Haare ausrissen. Auch unter den Kindern und Jugendlichen waren Prügeleien an der Tagesordnung. Und dabei war man ebenfalls nicht zimperlich: War ein Knüppel zur Hand, schlug man auch damit auf seinen Rivalen ein.

Das einzige Kind, das in unserem Umfeld von seinen Eltern nicht geschlagen wurde, war ein etwas älteres Mädchen in unserem Treppenaufgang, dessen Vater Beamter und ein ganz stiller und feiner Mensch war. Gelegentlich trieben die innerfamiliären Konflikte auch regelrecht kuriose Blüten. So stand einmal ein etwa 16 Jahre alter, wegen seiner Gewalttätigkeit gefürchteter Junge ungefähr drei Stunden auf dem Dach unseres Nachbarhauses und drohte seiner Mutter herunterzuspringen, wenn sie ihm kein Mofa kauft. Erst als sie ihm dies zugesagt hatte, kam er schließlich wieder herunter. Mitunter drohten die Erwachsenen auch fremden Kindern Prügel an, etwa wenn die Fußballspiele auf dem Spielplatz unmittelbar bis an die Reihenhäuser ausuferten, die über keine eigenen Gärten, sondern lediglich Terrassen verfügten.

Auch meine Schwester und ich wurden von unserem Vater immer wieder schwer verprügelt. Er schlug uns wegen nichts, aus den nichtigsten Anlässen. Eine Zeitlang glaubten wir, wenn wir ganz lieb sind, würde uns nichts passieren. Aber damit täuschten wir uns. Die Gewalt war für ihn ein Ventil, um seine eigenen vielfältigen Gewalterfahrungen zu verarbeiten. Irgendetwas machte ihn immer wieder sehr wütend, und dann ließ er diese Aggression an uns aus. Alkohol spielte dabei keine Rolle, im Gegenteil: Unser Vater war ein sehr geselliger Mensch – Silvester feierten wir immer mit Freunden unserer Eltern bei ihnen oder bei uns –, aber er trank nie viel, und nahm auch sonst keine Drogen. Wenn er etwas getrunken hatte, wurde er gewöhnlich sehr lustig und liebenswert.

Ermutigt durch den Umgang mit den Studierenden, die zu uns an die Schule kamen, ging ich schließlich im Jahr 1976, als meine Eltern gerade im Urlaub waren, zum Jugendamt und zeigte die Gewalttätigkeit meines Vaters an. Wenig später traf eine schriftliche Vorladung für meine Eltern ein, die ich zu den anderen Briefen legte. Als meine Eltern dann nach Hause kamen, sagte ich zu meiner Schwester, sie solle die Wohnung mal besser verlassen. Und das war auch gut so. Meine Eltern tobten vor Wut, und mein Vater verprügelte mich heftig. Da er dann ein Fußballspiel im Fernsehen schauen wollte, ließ er zunächst von mir ab und sagte, in der Halbzeit würde es weitergehen. Ich raffte daraufhin in aller Eile ein paar Sachen zusammen, schlich mich aus der Wohnung und kam erst einmal bei den Nachbarn direkt unter uns unter. Es war ein junges Ehepaar mit kleinen Kindern, die meine Misshandlung mitbekommen hatten und mich auf mein Schlagen gegen die Tür zu sich in die Wohnung ließen. Während ich heulend und total verzweifelt im Wohnzimmer auf dem Sofa saß, wobei ich mich bemühte, nicht zu laut zu schluchzen, und von den Kindern ganz verunsichert angeschaut und vom Mann getröstet wurde, beobachtete die Frau durch das Küchenfenster vorsichtig, was draußen geschah. Schließlich kam mein Vater wutschnaubend aus dem Haus und machte sich auf die Suche nach mir. Nach einiger Zeit kehrte er dann zurück und ging wieder in seine Wohnung. Daraufhin setzte ich meine Flucht fort, wobei ich nicht in Richtung der Haltestelle Merkenstraße ging, sondern über die Archenholzstraße zum Bahnhof in Billstedt lief. Von dort fuhr ich ins Uni-Viertel, wo mein Freund mittlerweile ein WG-Zimmer in der Bornstraße hatte. Auch die Studierenden, die ich von der politischen Bildung kannte, fingen mich auf und verschafften mir einen Platz, wo ich zunächst bleiben konnte.

Nach einiger Zeit gab es für meine Eltern und mich den Anhörungstermin beim Billstedter Jugendamt. Als mein Vater dort auch nach kurzer Zeit auf mich losgehen wollte, brach die Mitarbeiterin das Gespräch umgehend ab und trennte uns. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe. Zwei Jahre später starb er an Krebs. Lange Zeit war mein Vater für mich nur ein gewalttätiges Schwein. Dass er auch ein Opfer war, habe ich lange Zeit nicht gesehen. Erst als ich das erkannt habe, konnte ich auch über ihn sprechen.

Ich beantragte dann zunächst Sozialhilfe, die man damals recht leicht erhalten konnte, und nahm nach einiger Zeit an der Fachhochschule eine Ausbildung zur Erzieherin auf, die ich aber nicht zu Ende führte. Auch andere Sachen habe ich später angefangen und bald wieder abgebrochen. Ich konnte es nirgendwo lange aushalten, musste ganz viel leben und Leben bekommen. Psychotherapien wie heute gab es damals nicht. Ein Therapeut bot mir Psychopharmaka an, doch mit denen ging es mir so schlecht, dass ich sie nach zwei Wochen abgesetzt habe. Erst im Alter von vierzig Jahren habe ich erneut eine Therapie aufgenommen und das Erlebte aufgearbeitet.

Die Wohnung im Cottaweg hat unsere Mutter nach dem Tod unseres Vaters 1978 aufgegeben. Sie zog in die Merkenstraße 30, nur einen Steinwurf von ihrem Elternhaus entfernt. Dort lebte sie bis zu ihrem Tod  im Jahr 2011. Meine Schwester wohnt seit vielen Jahren in Wilhelmsburg und ich in Ottensen. Es besteht immer noch ein freundschaftlicher, wenn auch loser Kontakt, zu unseren Teamern aus der politischen Bildung, die ebenfalls in Ottensen leben.