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Der Polizistenmord und die Misshandlungen der Schiffbeker Gefangenen (1)

Im Häuschen der Bedürfnisanstalt auf dem Kirchsteinbeker Friedhof an der Kapellenstraße stießen die Polizisten auf die Leiche des Wachtmeisters Johannsen, die zuvor bereits der Friedhofsgärtner entdeckt hatte. Die Geschichte dieses Mordes, der, wie der Hamburger Anzeiger 1925 schrieb, „als Schandfleck und verbrecherischer Zug auf der Schiffbeker politischen Aktion lastet und ihr ein besonderes Gepräge gibt“, begann, als auf die Nachricht vom Vordringen der Orpo gegen 14.00 Uhr bei den Gefangenen Kruse und Johannsen im Polizeiamt zwei Aufständische erschienen. Auf die Bemerkung des Johannsen: „Wir sollen jetzt wohl als Geiseln dienen“, versicherte der hinzugekommene Hermann Werner: „Nein, ihr sollt nur so mitkommen, damit ihr nichts verraten könnt; es passiert euch nichts.“ Während Kruse dann auf Werners Geheiß  zurückblieb und einige Zeit später auf freien Fuß gesetzt wurde, musste Johannsen raustreten und wurde unter der besonderen Aufsicht dieser drei in einem größeren Trupp auf der Hamburger Straße Richtung Bergedorf mitgenommen. Nach einigen hundert Metern übergab Werner sein Gewehr und den Polizeiwachtmeister an andere Aufständische. „Ein Teil der Aufrührer, u.a. auch die Führer des Wachtmeisters Johannsen, von denen einer ein Gewehr, ein anderer mehrere Handgranaten bei sich hatte, bog darauf in nordöstlicher Richtung auf einen Fußweg über den sogenannten Brauereiberg von der Hamburger Straße ab. Die Führer des Johannsen zogen dann mit ihm durch die Kapellenstraße in die Straße ‚am Haidberg‘ (heute Borchardsheide). Beim Betreten der Kapellenstraße von der Brauereikoppel aus fragte Sinke den dort wohnhaften Schippmann, ob er bereit sei, den Johannsen in seine Wohnung aufzunehmen. Schippmann lehnte ab mit den Worten, er wolle sich nicht die Wurst auffressen lassen. Ein gewisser Dähne erbot sich darauf, den Johannsen mit in seine in der Kapellenstraße belegene Wohnung zu nehmen, die Begleiter des Johannsen könnten ja einen Mann mit Gewehr zur Bewachung mitschicken. Sein Angebot wurde abgelehnt. Die Straße am Haidberg führt von der Kapellenstraße in Richtung Öjendorf, von der alsbald der Angriff der Sipo einsetzte. Die Aufrührer lagen etwa 75 m entfernt von dem Gehöft des Essigfabrikanten Meyer in den Spargelbeeten in Stellung mit Front gegen Öjendorf. Beim Gehöft des Meyer hielten sich die Begleiter des Johannsen mit diesem 15-20 Minuten auf. Auch der Meyer erbot sich, Johannsen in seine Wohnung aufzunehmen, nötigenfalls auch dessen bewaffnete Begleiter. Das wurde wiederum abgelehnt mit den Worten: Der bleibt auf der Straße. Meyer hatte den Eindruck, dass man mit Johannsen etwas Schlimmes vorhätte. Johannsen selbst sah sehr bleich aus und äußerte: er hätte seinen Beruf nur auserwählt, weil er arbeitslos gewesen sei und der Gemeinde nicht habe zur Last fallen wollen. Er habe noch keinen Menschen umgebracht oder sonst etwas getan. Mit ihm könnten sie machen was sie wollten. Er war verheiratet, seine Frau erwartete ihr erstes Kind, das im Februar 1924 geboren wurde. Der bei den Begleitern des Johannsen stehende Möller äußerte nun: ‚Gebt ihm doch ein Gewehr in die Hand und steckt ihn in den Schützengraben, aber dann schießt er nicht auf seine Kameraden, sondern dreht das Gewehr um und schießt auf Euch, das Beste ist, ihr stellt ihn an die Wand! Was machen sie denn mit uns.“ Meyer äußerte darauf seine Entrüstung, so etwas hätten sie nicht einmal im Kriege in Russland und Frankreich mit ihren gefangenen Feinden gemacht, das könnten sie doch erst recht nicht in Deutschland mit den eigenen Volksgenossen, die sie gefangen hätten, machen. Darauf erwiderte der mit Gewehr bewaffnete Begleiter Johannsens: ‚Totschießen wollen wir ihn ja gerade nicht.‘ Möller schien nunmehr seine Äußerung zu bedauern, er entfernte sich stillschweigend und fragte die benachbarte Frau Suck in ihrer Wohnung, ob sie Johannsen nicht in ihrem Schweinestall aufnehmen wolle. Dies lehnte sie ab, weil darin die Schweine säßen. Möller ging darauf nach Hause.“ Mittlerweile hatte das Gefacht zwischen der Orpo und dem Trupp im Spargelbeet eingesetzt und die Straße am Haidberg lag unter dem Feuer der Polizei. Nun wurde Johannsen von den Aufständischen in die Kapellenstraße zurückgeführt, wo sie den Gärtner Reimann, der gerade die Kapellenstraße von Kirchsteinbek herkam und sein Grundstück gegenüber der Friedhofskapelle Ecke Kapellen- und Auguststraße (heute Brockhausweg) betreten wollte, vor dem Kapellengebäude bemerkte: „Ich sah vier Männer nach dem Kirchhof hinaufgehen, denen bald darauf zwei weitere folgten, die mich nach der Wohnung des Kirchhofwärters fragten. Als wir sprachen, fiel auf dem Kirchhof ein Schuss, der dem Knall nach in einem geschlossenen Raum abgegeben sein musste. Darauf entfernten sich die Männer, von denen einer ein Gewehr trug, schnell in Richtung nach Schiffbek. Gekannt habe ich von den Männern keinen. Ich ging nun nach dem Kirchhof, wo ich den Wachtmeister Johannsen in der Bedürfnisanstalt erschossen auffand; er zuckte noch. Anscheinend hat Johannsen austreten wollen, das schloss ich aus der Lage und den Kleidern des Ermordeten. Er lag auf dem Rücken den Kopf ein wenig an der Rückwand aufgerichtet. Der Einschuss befand sich unmittelbar neben dem rechten Schulterblatt und muss aus allernächster Nähe abgegeben sein. Die Kugel hatte den Körper und die vordere Wand der Bedürfnisanstalt durchbohrt. Ich halte die Männer, die an dem Mord beteiligt sind, nicht für Schiffbeker, sondern für Fremde.“

Der Mörder des Wachtmeisterns Johannsen ist niemals ermittelt worden. Auch als dieser Fall 1934 von den Nationalsozialisten noch einmal auf gerollt wurde, konnten trotz der auf Denunziationen ausgesetzten Belohnungen die Täter nicht festgestellt werden.

Über den Tathergang, für den die Staatliche Pressestelle 1923 die vom größten Teil der Zeitungen übernommene Sprachregelung ausgab: „… in bestialischer Weise erschossen“, was die Schiffbeker Zeitung ergänzte: „nach schweren Misshandlungen hinterrücks erschossen“, urteilte später auch ein gerichtlicher Sachverständiger. Er konnte an der Leiche keine Spuren von Misshandlungen feststellen. Nach seiner Einschätzung hatte ein gezielter Schuss aus unmittelbarer Nähe den sofortigen Tod des Wachtmeisters zur Folge.

Das Opfer dieses Polizistenmordes, der in den folgenden Tagen zur Rechtfertigung für das brutale Vorgehen der Orpo bei Verhaftungen und Verhören herhalten musste, war das einzige, das auf Seiten der Staatsorgane nach der Einnahme Schiffbeks zu beklagen war. Lediglich ein verwundeter Polizist stand einer erheblichen Zahl verletzter Zivilisten gegenüber. Über die Opfer unter den Aufstandsteilnehmern ist nichts bekannt. Verletzte galten der Polizei von vornherein als verdächtig, und die Hamburger Krankenhäuser, in die einige überwiesen werden mussten, wurden angewiesen, keine Entlassungen vorzunehmen, bevor die Patienten nicht polizeilich verhört worden wären.

Am Nachmittag des 24. Oktober 1923 schlug die Orpo ihr Quartier zunächst im Schiffbeker Amtshaus auf. Bald darauf richtete sie sich aber ein eigenes Wachlokal in den Räumen der Gastwirtschaft von Peters im alten Chausseehaus ein. Um 17.00 Uhr rückte der größere Teil der Danner-Armee unter Rücklassung der 14. Wachbereitschaft und des 11. Freihafenreviers, die dem Kommando eines Majors Lamp unterstanden, nach Bergedorf ab. „Major Lamp erhielt nach Rücksprache mit dem Gemeindevorsteher Klink den Befehl, sämtliche Kommunisten, die sich an diesem Kampfe beteiligt hatten, festzunehmen und Durchsuchungen nach Waffen vorzunehmen.

Bei der Durchführung dieses Befehls erwiesen sich die Orpo-Truppen als das, was entgegen Danners Beschönigungen auch schon die Freikorps, aus denen die hervorgingen, gewesen waren, als „wilde, reaktionäre Landsknechtshaufen.“ Wer in Schiffbek wie ein Arbeiter aussah, war vor nichts mehr sicher. Wie in besetztem Feindesland gingen die Polizeisoldaten vor. Nicht etwa gefangene Aufstandsteilnehmer mussten, wie es das Hamburger Fremdenblatt eine Woche später behauptete, „die von ihnen errichteten Verschanzungen und Schützengräben wieder selbst beseitigen und nach Möglichkeit wieder Ordnung schaffen.“ Völlig Unbeteiligte wurden von den Ordnungspolizisten aus ihren Wohnungen geholt oder auf der Straße angehalten und gezwungen, die Sperranlagen zu entfernen. Max Lubka sah damals, „wie mein Nachbar Ferdinand Schütte gezwungen wurde, mit einigen anderen den Schutzengraben zuzuwerfen, weil er im Stall einen Spaten und eine Schaufel hatte.“ Ferdinand Schütte betrieb ein Fischgeschäft in der Hamburger Straße 23. Die zu Aufräumarbeiten gezwungenen Schiffbeker konnten froh sein, wenn die Polizei sie anschließend wieder gehen ließ und sie nicht auch noch der Willkür und Brutalität ihrer Verhörmethoden unterwarf, wie es Johann Brodzik, einem 18jährigen Arbeitslosen aus dem Rahlstedter Weg Nr. 6 geschah. Der junge Mann, der am 29. November 1923 mangels irgendwelcher Belege für seine Teilnahme am Aufstand aus der U-Haft entlassen werden musste, gab zu Protokoll: „In Schiffbek fanden die Unruhen am 23. Und 24.10.23 statt. … In der Nähe meiner Wohnung, sowohl im Rahlstedter Weg wie auch in der Hamburger Straße wurde geschossen. Aus diesem Grunde habe ich meine Wohnung am Dienstag den 23. (tags und nachts) und auch am Mittwoch den 24. Bis nachm. 4 Uhr gar nicht verlassen. Da um 4 Uhr alles ruhig war, verließ ich meine Wohnung, um über die Hamburger Straße nach der Möllner Landstraße Nr. 23 zu Albert Mlynarcyck zu gehen … Als ich aber in die Hamburger Straße einbog, etwa um 4 ¼ Uhr, wurde ich von der Sipo angehalten, die von den Aufrührern niedergelegten Bäume von der Hamburger Straße zu räumen. Es waren dort mehrere Leute damit beschäftigt. Ich kenne aber nur den Arbeiter Krätschel, wohnt Schiffbek, Spinnhäuser. Als dieses getan war, gingen alle Beteiligten fort. Kurz vor Einbiegen in die Möllner Landstraße wurde ich von einem Sipo gestellt, nach meinen Papieren gefragt und nach Vorzeigen meiner Stempelkarte in die Wirtschaft von Hermann Peters Nachf., Hamburger Straße, gebracht und dort von mehreren Sipoleuten mit Gummiknüppeln verhauen und in einen Geschirrraum im Hofe gesperrt, wo bereits 4 andere Männer waren. Ich kenne aber keinen davon, … Ich bin in Schiffbek nicht vernommen (worden). Ich bestreite ganz entschieden, mich in irgendeiner Weise an den Unruhen in Schiffbek beteiligt zu haben … .“

Brodzik war nicht der einzige, der im alten Chausseehaus dieser Prozedur unterzogen wurde. Willi Eggers wusste 1973 zu berichten: „Ich war damals 20 Jahre alt. Wir hatten in Schleems gehört, dass sich in Schiffbek allerhand tut. Aus reiner Neugier ging ich mit meinen beiden jüngeren Brüdern nach Schiffbek rauf. Doch unsere Neugier sollten wir bitter bereuen, den zwei Stunden später hatte man uns so verdroschen, dss wir kaum noch laufen konnten. Man hatte uns bei der Gastwirtschaft Peters, Ecke Möllner Landstraße, aufgegriffen. Es waren Reichswehrsoldaten, die uns für Spione der Roten hielten.“

Andere Schiffbeker passierten das Wirtshaus mit der gebotenen Vorsicht. Erwin Ungureit: „Am späten Nachmittag wollte ich gerne wissen, wie es meinen Eltern erginge. So begab ich mich mit gemischten Gefühlen auf die Straße. Ich wusste, dass es gefährlich für mich werden könnte. Als ich beim Gasthaus Vocke war, sah ich, wie ein paar von der Reichswehr einen Mann abführten und mit ihm in die Gastwirtschaft von Peters verschwanden. Ich nutzte die Gelegenheit und lief so schnell ich konnte an dieser gefährlichen Stelle vorbei. Später hörte ich, dass hier drin ziemlich hart gedroschen wurde, auf Schuldige wie auf Unschuldige.“

Als am Freitag der darauffolgenden Woche die Mitglieder des Sozialdemokratischen Vereins Bergedorf tagten, wussten auch mehrere SPD-Genossen von der „Einsatzfreudigkeit“ der Orpo in Schiffbek zu berichten. Das Bergedorf-Sander Volksblatt gab am 3. November 1923 die Äußerungen der Versammlungsteilnehmer wieder: „Nicht zu verstehen sei … das ungemein rohe Vorgehen der Sipo bei den Verhaftungen. Scheinbar habe man eine Folterung der Gefangenen vorgenommen. Unbedingte Untersuchung müsse gefordert werden über den Prügelkeller in Schiffbek. Fast restlos sind die Abtransportierten dort in einen Keller gebracht, wo 3 bis 4 Sipobeamte mit aufgekrempelten Hemdsärmeln gestanden haben, die dann die Gefangenen, die sich über eine Biertonne haben legen müssen, mit dem Gummiknüppel geschlagen haben. Bereits wieder zur Entlassung gekommene Genossen haben sich gemeldet, die bereit sind, ihre Aussagen zu wiederholen.“

Obwohl in der Gaststätte über dem „Prügelkeller“ gewöhnlich ein eher bürgerliches Publikum verkehrte, scheint sich das Wüten der Orpo-Soldaten in seinem Hause für dem Wirt in den folgenden Tagen doch ruf- und geschäftsschädigend ausgewirkt zu haben. Vierzehn Tage später erschien in der Schiffbeker Zeitung offenbar auf seine Veranlassung folgende Notiz: „Die Polizeiverwaltung teilt uns mit dem Ersuchen um Veröffentlichung mit: Es sind Gerüchte im Orte verbreitet, wonach Herr Gastwirt Peters während der Unruhetage sein Lokal der Sipo angeboten und zur Verfügung gestellt habe. Demgegenüber wird festgestellt, dass das Lokal des Herrn Peters von der Sicherheitswehr beschlagnahmt worden ist, weil die Sipo nicht anderweitig unterzubringen war.“