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Die Gnadenfrist: Rückkehr der Aufständischen und Hilfe von außerhalb

Am nächsten Morgen erschien im Hamburger Echo die Mitteilung der Pressestelle des Senats vom Vorabend um 20.30 Uhr: „Auch in Schiffbek stellte die Polizei die Ordnung wieder her.“ Das war jedoch weit gefehlt, denn nach dem Abrücken des Orpo-Reviers zogen die Kommunisten wieder in den Ort und in ihre Stellungen ein und waren bald „wieder unbeschränkte Herrn der Lage“. Dank der Dannerschen Verstärkungsverweigerung – vermutlich hätten 100 Mann der 6000köpfigen Hamburger Polizeitruppe „für die gründliche Befriedung Schiffbeks“ ausgereicht – konnten die Aufständischen, die schon fast am Ende waren, noch einmal für etwa 20 Stunden in Schiffbek das Regiment führen.

Allerdings bleibt angesichts der Gesamtlage des Hamburger Aufstands und der Situation im Reich zu diesem Zeitpunkt die Frage, warum die Schiffbeker Kommunisten diese Gelegenheit tatsächlich wahrnahmen. Reichsweite Aktionen waren ausgeblieben, Befehle zum Kampfabbruch waren in Hamburg im Laufe des Tages an manchen Stellen befolgt worden, die Wachen waren wieder im Besitz der Polizei, in Barmbek-Süd und Bramfeld schwiegen die Waffen, bald darauf sollten die Barmbeker ihr verschanztes Stadtviertel räumen. War der Schiffbeker Vollzugsausschuss über diese Situation im Bilde?

Der Kurier Bremer, der den Auftrag hatte, per Fahrrad den Kontakt zwischen der Hamburger Parteileitung und Schiffbek aufrecht zu erhalten, konnte diese Verbindung nach eigenen Angaben den ganzen Tag über nicht herstellen. Das Parteihaus der KPD am Valentinskamp hatte er schon am Morgen von der Polizei besetzt vorgefunden. Bei der Geheimkonferenz im Hinterzimmer der kommunistischen Buchhandlung in der Langen Reihe, auf der gegen 17.00 Uhr in „gedrückter Stimmung“ beratschlagt wurde, wie den Barmbekern doch noch Unterstützung zuteilwerden könnte und wo über die verzweifelte Lage offenbar einige Klarheit herrschte, war auch ein Schiffbeker Abgesandter zugegen. Hier wurde auch die Unterstützung der Schiffbeker Kämpfer ins Auge gefaßt: „Von Hamm und Hammerbrook sollten 600 Mann zur Verstärkung nach Schiffbek gehen und ggf. nach Barmbek weiter vorgehen.“ Wahrscheinlich konnte dieser Schiffbeker Nachrichtendienstleister aber genauso wenig wie irgendwelche Hilfstruppen aus Hamm in das mittlerweile polizeilich abgeriegelte Schiffbek hineingelangen, so dass der Kenntnisstand der dortigen Kommunisten über die tatsächliche Lage diffus und von Gerüchten verwirrt blieb. Die Presse meldete am nächsten Morgen: „Die Zugangswege von Steinbek usw. sowie die blaue und die rote Brücke von Billwärder sind von der Polizei besetzt.“

Neuen Mut konnten die Schiffbeker Aufständischen schöpfen, als ihnen in dieser Nacht die Bergedorfer Genossen zu Hilfe kamen. Da man sich einem neuen Angriff nicht gewachsen sah, hatte man um Unterstützung aus Bergedorf-Sande gebeten.

Über die Stärke der dortigen Kommunistischen Kampfgruppen hatte Urbahns im Juli 1923 gemeldet, dass eine 80köpfige proletarische Hundertschaft bestehe. Nach Polizeiangaben war am 12. Oktober in Sande beim Gastwirt Siemers im Holsteinischen Hof eine weitere Hundertschaft aufgestellt worden. Schon am Morgen des 23. Oktober waren einige Kommunisten von hier nach Barmbek gezogen. Vormittags drangen etwa 100 Erwerbslose und Kommunisten gewaltsam ins Eisenwerk in Sande ein und legten nach Verhandlungen mit dem Betriebsrat das Werk still. Die 800 bis 900 Arbeiter verließen daraufhin den Betrieb. Im Anschluss daran berief ein Aktionsausschuss der Metallarbeiter eine Versammlung ins „Colosseum“, wo man den Generalstreik proklamierte und eine weitere Versammlung am Abend im Holsteinischen Hof angekündigt wurde.

Auf dieser Zusammenkunft, zu der sich an die 300 Leute einfanden, beschloss man die Unterstützung der Schiffbeker Kämpfer. Man ging zum Waffenholen auseinander, versammelte sich um 20.00 Uhr erneut und marschierte, nachdem den Bergedorfern noch ein neu eingeteilter Zug aus Sande zugesellt und die Parole „Uschi“ für die Unternehmung ausgegeben worden war, über Boberg und Kirchsteinbek nach Schiffbek. Voraus fuhr eine Radfahrerspitze, es folgten die Bewaffneten, zu denen auch einige Männer gehörten, die Handgranaten in Rucksäcken mitschleppten, dann schlossen sich die restlichen Hilfstruppen an. In Boberg machte man beim Landmann August Krogmann halt und holte noch weitere Waffen aus einem Versteck. In Kirchsteinbek erwartete ein Schiffbeker Vorposten die vier Hundertschaftszüge und teilte ihnen die Schiffbeker Parole „Liebknecht“ mit.

Hannes Piehl war damals während seiner Lehrzeit dabei: „Irgendwie hatte ich erfahren oder wurde benachrichtigt, dass abends um 8.00 Uhr zur Unterstützung nach Schiffbek losmarschiert werden sollte. Der Treffpunkt (war) beim Schützenhof in Lohbrügge, vor der früheren Munitionsfabrik Weifenbach. … Ich hatte mich so richtig kriegerisch zurecht gemacht – Militärmantel von meinem Alten, Seitengewehr am Gürtel. Dazu hatte ich mir auf der Arbeit aus Draht so’n richtigen Totschläger gebastelt. Den trug ich auch am Gürtel. Da sagte so’n Älterer: ‚Kiek di den mol an!‘ Ich dachte so an Nahkampf gegen die Sipo. Einige wenige hatten richtige Gewehre, andere bloß Pistolen, und viele waren nicht bewaffnet. Wir zogen so mit Stücker 100 auf der Chaussee über Boberg nach Schiffbek. Aber wir sind nicht mit 100 in Schiffbek angekommen. Einige haben sich unterwegs in die Büsche geschlagen. … An den Häuserwänden (in Schiffbek) sah ich Plakate ‚Räte-Republik Deutschland‘ oder so ähnlich. Und überall waren bewaffnete Arbeiter. Wir trafen gegen 11.00 Uhr (nachts) im Gemeindehaus in Schiffbek ein. Dort war so’n allgemeiner Treffpunkt. Es gab für jeden erst einmal einen Teller Suppe. Dann haben die mich und einen anderen Lehrling vom Eisenwerk … auf den Kirchturm geschickt. Wir sollten von da oben Ausschau halten Richtung Horn.“

Die Zahlenangaben über die Bergedorf-Sander Hilfstruppen, die auch zu Patrouillengängen oder als Schützengrabenbesatzung eingeteilt wurden, schwanken zwischen 200, die die Schiffbeker Zeitung zählte, und 80, die ein Zeuge Habedanks unter Absingen der Internationale in Schiffbek einmarschieren sah. Ein Teil der Helfer soll noch in der Nacht oder gegen Morgen wieder nach Bergedorf gegangen und am nächsten Tag bewaffnet wieder nach Schiffbek zurückgekehrt sein. Die Staatsanwaltschaft sprach in diesem Zusammenhang sogar von 50 Bewaffneten.

Ein anderer Versuch, die Reihen der Schiffbeker Kämpfer zu verstärken, blieb ohne Erfolg. In der Nacht hielt in Bergedorf ein bewaffneter Trupp einen durchfahrenden LKW der Firma Karstadt an, dessen Fahrer für die Angestellten des Kaufhauses Kartoffeln holen sollte. Die Kommunisten zwangen den Karstadt-Chauffeur nach Geesthacht zu fahren, um von dort Verstärkungsmannschaften nach Schiffbek zu transportieren. Doch die Geesthachter Genossen weigerten sich mitzumachen. Anschließend sollte ein Paket Dynamit aufgeladen werden, eine Aktion, die entweder an der Weigerung des Fahrers, der auf die Gefahren hinwies, oder weil das Dynamit gar nicht wie geplant in der Geesthachter KPD-Wirtschaft bei Lühmann vorfindlich war, scheiterte. Bei einer weiteren Fahrt will der Chauffeur Gelegenheit gefunden haben, mitsamt seinem Lastwagen die Flucht zu ergreifen, wobei er sich in einem Sandweg festfuhr, den Magnet aus dem Wagen herausnahm und nach Hamburg marschierte.

In Schiffbek wurden auch in der Nacht Passanten angehalten und nach Waffen durchsucht und Kraftfahrzeuge zurückgeschickt. Gegen 22.00 Uhr fuhr ein über Bergedorf aus Berlin kommender PKW am Amtshaus vorbei. Am Steuer saß ein Hamburger Kaufmann aus der Grindelallee, im Fond des Wagens saß sein Schwager, der Kaufmann Herbert Berger aus Berlin-Wilmersdorf mir seiner Frau. Als der Wagen auf Anruf nicht hielt, gab der Sperrposten der Kommunisten zwei Schüsse auf das Fahrzeug ab, die den Berger im Gesäß trafen. Beim ersten Schuss stoppte der Wagen auf der Höhe des Schleemer Bachs etwa 100 Meter hinter dem Amtshaus. Als der zweite Schuss fiel, fuhr er weiter bis zur Praxis von Dr. Bock, der den schwerverletzten Berger ärztlich versorgte und seine Einlieferung ins Allgemeine Krankenhaus St. Georg veranlasste. Am nächsten Mittag verhörte ihn dort die Polizei. Die Schiffbeker Zeitung, die am 25. Oktober über diesen Vorfall berichtete, machte aus dem Berliner Kaufmann einen „Gewerkschaftsbeamten“, wohl in der Meinung, durch den Schuss eines KPD-Angehörigen im Gesäß eines Gewerkschaftsfunktionärs das Verhältnis dieser beiden Arbeiterorganisationen besonders treffend ins Bild setzen zu können. Unzutreffend war auch die weitere Meldung des Lokalblatts, dass es „in diesem Falle bei einer Verletzung verblieb“. Am 22. November 1923 starb Herbert Berger im Krankenhaus St. Georg und zwar, wie eine Leichenöffnung am 26. November ergab, „an den Folgen der erlittenen Schussverletzung und daran anschließender Blutvergiftung.“

Auch Schiffbeker Bürger hatten Probleme mit den nächtlichen Patrouillen. So berichtete die Schiffbeker Zeitung am 27. Oktober 1923: „Einem … hiesigen Einwohner, der in der Nacht zum Mittwoch zur Hebamme wollte, versperrten einige junge Leute den Weg und wollten ihn nicht durchlassen. Schließlich musste der Mann gewaltsam die Bahn freimachen.“

Ein anderer Schiffbeker, ein Monteur namens Schmidt, hatte schon am Vortag Schwierigkeiten mit den Absperrungen gehabt. Während er am Morgen in Hamburg für seine schwerkranke Frau Medikamente kaufte, war er von dem Aufstand überrascht worden und konnte nicht wieder nach Schiffbek hinein. Daher schloss er sich am Nachmittag dem Orpo-Vorstoß an und gelangte auf diese Weise zu seiner Frau in die Wohnung. Als er aber am nächsten Morgen sein Haus verließ, richteten sich mehrere Gewehre auf ihn und mit den Worten: „Das ist er!“ nahm ihm ein Trupp der Aufständischen, der schon auf ihn gewartet zu haben schien, fest und führte ihn ab. Die Kommunisten verdächtigten ihn, die Polizei geführt und ihr die Positionen der Dachschützen verraten zu haben. Erst nachdem der Arzt der Frau den Kommunisten die Angaben des Monteurs bestätigte, wurde Schmidt gegen 10.00 Uhr entlassen, sollte aber unter Beobachtung bleiben und bei einem erneuten Orpo-Angriff wieder in Haft genommen werden.

Die Kommunisten nahmen an diesem Vormittag noch weitere Verhaftungen vor, versuchten auch noch vereinzelt bei Schiffbeker Bürgern Waffen zu requirieren und machten sich an die Verbesserung ihrer Verteidigungsanlagen. Der am Vormittag bereits entlassene Polizeibeamte Kröger wurde auf der Straße erneut von drei Aufständischen festgenommen, nach einiger Zeit mit einem Passierschein entlassen, zu dessen Echtheitsbestätigung er bald darauf abermals im Amtshaus vorgeführt wurde. Ein Zimmermann namens Kruse, der als ehemaliger Reichswehrangehöriger den Kommunisten als Sicherheitsrisiko galt, wurde im Amtshaus eingesperrt.

Schließlich verhafteten die Kommunisten noch den Polizeiwachtmeister Karl Johannsen, der später von den Aufständischen ermordet wurde. Johannsen lebte mit seiner jungen Frau bei seinen Eltern; seinen Polizeidienst versah er bei der Altona-Wandsbeker Polizei in Wandsbek. Am 23. Oktober war er abends von einer Reise zurückgekehrt. Der mit ihm auf dem gleichen Hausflur wohnende Kommunist Thoms hatte bereits im Laufe des Tages seine Eltern gefragt, ob ihr Sohn nach seiner Rückkehr am 24. Seinen Dienst antreten werde. Als der Vater den Polizisten bat, zuhause zu bleiben, antwortete Johannsen: „Dienst ist Dienst!“ und machte sich am Morgen um 5.30 Uhr mit dem Fahrrad auf den Weg. Kurze Zeit später wurde er von der Hamburger Straße kommend im Weg 191 von einigen Aufständischen, die ihn schon erwartet hatten, festgenommen und zunächst im evangelischen Gemeindehaus dem Vollzugsausschuss vorgeführt, anschließend im Amtshaus mit dem Zimmermann Kruse im gleichen Raum in Haft gehalten. Ihre Gefängniskost bestand aus Suppe und Brot.

Unterdessen zogen wieder Entwaffnungstrupps aus. Beim Stellmacher Karl Schirrmacher in Kirchsteinbek hatten sie noch einmal Glück und konnten ein Einwohnergewehr mitnehmen, im Laden des Kaufmanns Altmann, dem sie eine Einsperrung ins Spritzenhaus androhten, war für sie nichts zu holen. Der Sohn des Kaufmanns erinnerte sich: „(Es) kam ein Trupp schwerbewaffneter Männer in unser Geschäft. In barschem Ton forderten sie meinen Vater auf, Waffen und Munition aus unserem Geschäft herauszugeben. Sie wurden von einem Schiffbeker Kommunisten angeführt. Mein Vater gab ihnen unsere Luftgewehre und die dazugehörenden Bleikugeln; doch darauf verzichteten sie und zogen grollend aus dem Laden.“

Das Straßenbild bot einen martialischen Anblick: „Man sah … viele Männer, je mit zwei Handgranaten versehen, andere waren nicht nur mit Infanteriegewehren, sondern auch mit Seitengewehr, teilweise sogar mit Kavalleriesäbel ausgerüstet.“ Vor dem Jenkelschen Haus wurden zwei große Straßenbäume umgesägt und als Barrikaden quer über die Straße gelegt, wobei der Hufschmied Czempies den Aufständischen Hinweise gab, „wie man die Bäume ordnungsgemäß fällen müsse, um sie als Barrikadenhindernisse zu gebrauchen.“ Die Baumsäge wurde beim Zimmermeister Bruns requiriert bzw., wie der betreffende Aufständische vor Gericht formulierte, „freundschaftlich entliehen“. Bruns erhielt eine Quittung. Auch am Weg zur Roten Brücke hob man jetzt einen Schützengraben aus, die übrigen wurden vertieft, wozu der Zimmermeister Schümann vier Spaten beisteuern musste. Die Verteidigungsstellen wurden den ganzen Vormittag über besetzt gehalten. Dabei war auch wieder Gedaschke, der ehemalige Chef der revolutionären Sicherheitswehr anzutreffen: „Gegen 11 Uhr stand er mit Gewehr im Schützengraben und sang kommunistische Lieder.“

Man war mit den Schanzarbeiten noch nicht ganz fertig, als ein Radfahrer den bevorstehenden Angriff der Orpo meldete. In letzter Minute wandten sich die Schiffbeker Aufständischen an die Staatskaiarbeiter im Hamburger Hafen. Hier war man gerade mitten in der Diskussion über die Regularien der Streik-Urabstimmung, „während telefonische Hilferufe der Kommunisten in Schiffbek einliefen; man sicherte ihnen die Entsendung von 150 Kämpfern zu, aber ehe die Beratungen über die Gültigkeit des Streikregulativs zu Ende waren, war der Widerstand in Schiffbek schon erloschen.“

Von anderer Seite traf eine allerdings wohl wenig hilfreiche Unterstützung gerade noch vor Beginn der Kämpfe ein. In Wilhelmsburg, wo man sich bisher zu keinen Aktionen hatte entschließen können, bestellte der führende KPD-Funktionär Hein am Vormittag etwa 100 Erwerbslose, die er vor dem Arbeitsamt ansprach, zu einer Gastwirtschaft. Nach Heins Erklärungen über den Zweck dieser Versammlung fanden sich 30 der Arbeitslosen bereit, an einer Unterstützungsaktion für Schiffbek teilzunehmen. Unter Heins Führung zogen sie einzeln oder in kleinen unauffälligen Gruppen vorbei am Wasserturm in Rothenburgsort und dem Bahnhof Tiefstack über die Tiefstacker Kanalbrücke nach Schiffbek. Unterwegs warf Hein seine sämtlichen Geheimpapiere, Mitgliedslisten und sein Parteibuch in die Bille und empfahl den anderen ein gleiches zu tun. Einige Trupps wurden unterwegs von Polizei angehalten und durchsucht, konnten aber mangels Waffen oder verräterischer Papiere weiterziehen. Als sie sich Schiffbek näherten, gingen beim Klang des Gewehrfeuers einige zurück nach Hause. In Schiffbek angekommen wurden die verbliebenen 20 Mann ins Amtshaus gebracht und, da sie unbewaffnet waren, als Aufklärer bzw. Beobachtungsposten eingeteilt.